Vortrag an der Akademie Schloss Urstein (Wirtschaftskammer Salzburg) im Rahmen der Gesprächsreihe „Wirtschaft weiter denken“, September 2011
Der vergangene Sommer war wohl einer der wirtschaftlich bewegtesten, die wir jemals erlebt haben. Im Marktbericht einer internationalen Privatbank vom Beginn dieses Monats liest sich die aktuelle Bestandsaufnahme so: „Die Eurokrise spitzt sich weiter zu – derzeit sieht es nach einem „no way out“-Szenario aus. Der Politik mangelt es an langfristigen Lösungsansätzen. Ein Land wie Griechenland, dessen BIP bereits über 5% schrumpft, zu weiteren „Austerity“-Maßnahmen zu veranlassen kann nicht zielführend sein. Die bevorstehende Rezession in den USA und Europa wird die Krise verschärfen, Banken- und Staatspleiten sind absehbar.“
Die Unruhe an den Börsen mit Wertverlusten von mehr als dreißig Prozent innerhalb weniger Wochen stand jedenfalls in auffallendem Kontrast zu der seit Anfang August anhaltenden Schönwetterperiode. An manchen Tagen entschied man sich dafür, zur Wahrung des Urlaubsfriedens besser keine Nachrichten zu hören. Zu dieser Stimmungslage passt der folgende Satz aus dem legendären Hollywood-Film „Vom Winde verweht“: „Darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Denn dann würde ich verrückt werden. Ich werde erst morgen darüber nachdenken“ (Im Original: „I can´t think about that right now. If I do, I´ll go crazy. I´ll think about that tomorrow“).
Bekanntlich bezieht sich der Titel des Films nicht etwa auf Kursverluste an den Börsen sondern auf eine bewegende Liebesgeschichte zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges. Dennoch verdanke ich den Hinweis auf diesen Satz einem Investmentbanker, der ihn kürzlich einer Marktinformation für nach sicheren Veranlagungen suchende Kunden voranstellte. Offensichtlich wollte er sie schon auf die kommenden Turbulenzen einstimmen.
Erst später fiel mir auf, dass sich mit den gleichen Worten („Daran will ich heute noch nicht denken“) auch jene geradezu trotzige Haltung beschreiben ließe, mit der internationale Großbanken trotz aller Finanzmarkt-Sturmgewitter unbeirrt am Theorierahmen ihres Handelns festhalten. Sobald sie nämlich bereit wären, darüber grundsätzlich nachzudenken, müssten sie daran gehen, ihr Geschäftsmodell grundlegend zu verändern.
Wohl auch deshalb wird die aktuelle Großkrise des Weltfinanzsystems zumeist als eine jener vielen Krisen beschrieben, die es regelmäßig und schicksalhaft immer wieder gab, seit Handel getrieben und Geld gedruckt wird. Doch diese Einreihung in eine wirtschaftsgeschichtlich unbestrittene Aufeinanderfolge von Krisen kann auch als willkommene Ablenkung vom tieferen Blick auf die konkreten Ursachen der aktuellen Krise dienen.
Die Spieltische des „Kasino-Kapitalismus“, wie der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn in seinem höchst lesenswerten Bestseller das derzeitige Finanzsystem nennt, werden nämlich trotz aller Diskussionen über künftige Trennbankensysteme und verlässlichere Kontrollen wieder ungehemmt frequentiert. Vor wenigen Tagen erst zeigte sich die Finanzwelt davon erschüttert, dass ein erst 31 Jahre alter Devisenhändler namens Kweku Adoboli nicht weniger als 2,3 Mrd. Euro im Derivaten-Handelsraum einer Schweizer Großbank in London verzockte. Nur wenigen fiel auf, dass der Skandal weniger im Versagen des überforderten Zauberlehrlings liegt als in einem Bankensystem, das derartige spekulative Entgleisungen noch immer zulässt.
Nach wie vor produzieren an flüchtigen Kapitalmarktwerten orientierte Bilanzen Scheingewinne, die sogenannten „Schattenbanken“ existieren unkontrolliert weiter und für die Schaffung höherer Eigenmittelpolster gibt es extrem lange Übergangsfristen. Die internationalen Bankenlobbys haben wirksame Arbeit geleistet und sichern sich ihre Spielwiesen für die nächste Welle an sogenannten „Finanzinnovationen“, mit denen die kommenden, verstrengerten Regulierungen wieder so weit wie möglich ausgereizt oder umgangen werden können.
Mittlerweile ist uns im Übrigen bereits der letzte Facebook-Eintrag des Derivatehändlers Adoboli kurz vor Auffliegen seiner Manipulationen überliefert. Er lautete schlicht: „Ich brauche jetzt ein Wunder“. Weil man aber in Wirtschaftsangelegenheiten besser auf die Kraft der Vernunft als auf Wunder setzt, will ich zunächst von den Gesetzmäßigkeiten sprechen, die hinter den Turbulenzen auf den Finanzmärkten und des Euroraums stehen, um danach mit Ihnen über mögliche Lösungsansätze zu diskutieren.
Weil sich aber die krisenerzeugenden Spielregeln unseres Finanzsystems nur auf der Grundlage einer bewussten Werteorientierung verändern lassen, werde ich im Schlussteil meines Referates auch über Ordnungspolitik sprechen, also über Rahmenbedingungen, die eine gut funktionierende Marktwirtschaft braucht, um für die gesamte Gesellschaft nützlich zu sein. Das ist mit der Werte-Wende im Titel meines Referates gemeint, die wir brauchen, wenn wir eine Krise ohne Ende vermeiden wollen.
Krisenverlauf und systemische Ursachen
Der Verlauf der Finanzmarktkrise ist uns mittlerweile so vertraut, dass ich ihn nur mehr kurz zusammenfasse:
Internationale Großbanken und von ihnen beeinflusste Schattenbanken haben in einem Umfeld ungezügelter Liberalisierung mit Hilfe extrem hoher Fremdmittel-Hebel bei zugleich immer knapperer Eigenmittelausstattung unglaubliche Mengen an geldwerten Ansprüchen geschaffen. Diese ungezügelte Kredit-Geldschöpfung durch das Finanzsystem war nicht mehr durch reale Wertschöpfung gedeckt, sondern überwiegend spekulativer Natur. Als ab dem Sommer 2007 die amerikanische Immobilien-Blase zu platzen begann, war plötzlich das ganze Kartenhaus überzogener Forderungen einsturzgefährdet. (Subprime-Krise).
Obwohl das sogenannte Kernkapital der Banken vordergründig auszureichen schien, führten fehlerhafte Bank-Regulative und Rating-Signale in Folge des rasch eintretenden Wertverfalls zur beinahe gänzlichen Aushöhlung der Eigenkapitalbasis der Banken. Kurz vor dem Beinahe-Absturz der globalen Finanzwirtschaft nach der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers am 15.September 2008 lag der durchschnittliche Fremdmittel-Hebel (Leverage) großer internationaler Banken bei 35, was im Umkehrschluss einer „echten“ Eigenmittelquote des Welt-Bankensystems von weniger als drei Prozent entsprach. Die meisten Geldinstitute fuhren ohne jeden Risikopuffer in die Krise.
Als besonders ausfallgefährdet erwiesen sich dabei die sogenannten synthetischen Wertpapiere (Asset Backed Securities / ABS sowie Collateralized Debt Obligations / CDO). Es handelt sich dabei um die Bündelung von einzelnen Kreditforderungen zu Wertpapieren. Diese „Finanzinnovationen“ wurden von den Rating-Agenturen offenkundig völlig falsch eingeschätzt. Bei ihnen war der Wertverfall besonders groß. Sie bilden deshalb bis heute den größten Anteil an den sogenannten „toxischen“ Beständen des Finanzsystems. Ähnliches gilt für die zahlreichen Kreditgarantien, die bilanztechnisch bis heute vom Erfordernis einer Eigenmittelunterlegung ausgenommenen sind. (Credit Default Swaps / CDS).
In der Folge kam es zu rasanten Bewertungs- und Vermögensverlusten nicht nur bei den großen, international verflochtenen Bankinstituten, sondern auch bei allen privaten und institutionellen Anlegern. Die Zwischenbanken-Ausleihungen kamen vorübergehend fast gänzlich zum Erliegen. Eine unmittelbare Folge der daraus resultierenden Kredit-Verknappung war der stärkste Konjunktureinbruch seit den Dreißigerjahren. Mit der Vertrauenskrise im Welt-Finanzsystem war nun auch der Wohlstand breitester Bevölkerungskreise gefährdet.
Die Regierungen handelten in Abstimmung mit den Notenbanken erstaunlich rasch und schnürten noch im Oktober 2008 Garantiepakete zur Aufrechterhaltung der Grundfunktionen des Finanzsystems. Sie liehen durch Einlage und Anleihe-Garantien den Akteuren auf den Finanzmärkten jenes Vertrauen, das man damals in Staaten noch uneingeschränkt setzen konnte und brachten so den brachliegende Zwischenbanken-Kapitalmarkt wieder in Schwung. Die erforderlichen Bankenhilfspakete addierten sich mit den Konjunkturpaketen und den Kosten für die unverzichtbare Aufrechterhaltung der sozialen Sicherungssysteme allerdings zu einer erdrückenden Belastung für die öffentlichen Haushalte.
Unterschätzte Folgeschäden: Arbeitsmärkte und Schulden-Krise
Trotz einer bis zum Frühsommer dieses Jahres wieder florierenden Konjunktur sind wesentliche Folgeschäden der Krise noch nicht aufgearbeitet. Erfreulich hohe Beschäftigungsquoten gerade in Deutschland und Österreich ändern nichts an den seit der Krise wesentlich höheren Arbeitslosenraten in zahlreichen anderen europäischen Ländern, zuvorderst Spanien mit einer Quote von mehr als 20 Prozent und fast 40 Prozent bei den Jugendlichen. Auch in den USA, die 2009 ein Minuswachstum von 3,5% wegstecken mussten, überwiegt bei einer Arbeitslosenrate von 9,6% immer noch „jobless growth“, also Wachstum ohne neue Beschäftigung.
Am einschneidendsten jedoch sind die Folgen für die Staatsverschuldung. Diese stieg im Durchschnitt der Länder der Eurozone um deutlich mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes an – bei einzelnen Staaten wie Irland sogar um das Doppelte. Der Sonderfall Griechenland machte überdies zu Beginn des Jahres 2010 ungelöste institutionelle Fragen der Euro-Zone offenkundig und zog in der Folge das Misstrauen der Rating-Agenturen und internationaler Anleihezeichner in die Rückzahlungsfähigkeit auch anderer Euro-Staaten wie Portugal und Spanien nach sich. Der Schwerpunkt des Problems verlagerte sich von einer Vertrauenskrise des Finanzsystems auf eine Vertrauenskrise der öffentlichen Haushalte. Diese hat mittlerweile in den USA und Europa Größenordnungen erreicht, die an die Grenzen der politischen Verkraftbarkeit gehen.
Erstaunlicherweise wird die Staatsschuldenkrise weitgehend isoliert von der Finanzkrise diskutiert, obwohl sie doch deren unmittelbare Folge ist – oder zutreffender noch: ein Teil davon. Es stimmt zwar, dass auch die hohen Produktivitätsunterschiede zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten und die flächendeckende Neigung der Regierungen zu ausufernden Budgets in praktisch allen Euro-Ländern zum Problem beitragen. Aber ohne die abrupte Erhöhung der Staatsverschuldung im Durchschnitt der EU-Staaten um mehr als Drittel gäbe es – trotz des Sonderfalls Griechenland – wohl keine akute Krise der Gemeinschaftswährung.
Die Folgewirkungen sind jedenfalls gravierend. Der Zwang zur Restrukturierung und zum Schuldenabbau betrifft praktisch den gesamten OECD-Raum. Er dämpft für lange Zeit die öffentliche Nachfrage auf allen Ebenen der Gebietskörperschaften. Gekürzte Familien- und Sozialbudgets schwächen den privaten Konsum und damit sowohl die Inlands- als auch die Exportnachfrage. Unsicherheit über die Weiterentwicklung der in einer existentiellen Zerreißprobe stehenden Gemeinschaftswährung vermindert darüberhinaus die Investitionslust der Unternehmen. Damit stehen wir vor einer Phase niedrigen und in einigen Mitgliedsländern sogar negativen Wachstums, die die erforderliche Entschuldung noch schwieriger machen wird.
Es ist wohl kein Zufall, dass von der massiven Erhöhung der Staatsschuld durch die Finanzkrise jene Staaten am meisten betroffen waren, in denen die Bankenregulierung nach anglosächsischem Muster ausgerichtet war. Dieses Muster bedeutet immer eine regulatorische Begünstigung hoher Fremdmittelhebel und führt zu entsprechend niedriger Eigenkapitalausstattung mit hohen Folgekosten in der Krise. Verschont blieben hingegen neben dem regulatorisch sehr eigenständigen US-Nachbarn Kanada fast alle „Emerging Economies“ Asiens und Südamerikas, aber auch die zentraleuropäischen Nachbarländer und die Türkei. Staaten, die sich nicht an der uferlosen Deregulierung des Finanzsystems beteiligt hatten, blieben demnach von den Krisenschäden weitgehend verschont. Sie gehen nun ohne den Ballast überbordender Defizite in die nächste Wachstumsphase und sehen das angloamerikanische Banken-Modell wohl zu Recht nicht mehr als Vorbild.
Die regulatorische Sonderrolle der Rating-Agenturen
Im Verlauf der aktuellen Diskussion um die Turbulenzen auf den Finanzmärkten tauchten viele Missverständnisse rund um das Thema Rating-Agenturen auf. Bevor ich auf unsere aktuelle Situation in Europa zurückkomme, will ich deshalb auf deren Funktion etwas näher eingehen.
Finanzmarktökonomisch sind Rating-Agenturen eine nützliche Einrichtung. Durch ihre Erfahrung in der Einschätzung der Kreditwürdigkeit von Schuldnern erleichtern sie die Entscheidungen von Investoren über Investitionen und Veranlagungen. In der Beurteilung von Unternehmen haben sie sich dabei einen so guten Ruf aufgebaut, dass ihnen die Schöpfer von Basel II fälschlicherweise sogar eine regulatorische Leitfunktion zugeschrieben haben.
Das unselige Regelwerk von „Basel II“ beruht nämlich auf der sogenannten „Risikogewichtung“, also der nach Rating-Klassen abgestuften „Unterlegung“ von Ausleihungen durch Banken-Eigenkapital. Wer jedoch eine Prognose-Größe – und nichts anderes ist eine Rating-Einstufung – als so verlässlich ansieht, dass er sie zur Messgröße der Kapitalausstattung des Bankensystems macht, darf sich nicht wundern, wenn die zu erwartenden prozyklischen Effekte auftreten: Überschätzung der Bonität im Aufschwung, Ausdünnung der Eigenmittel, immer längere Fremdmittelhebel und dann, nach Kippen der Situation in den Abschwung, rascher Ratingverfall und hoher Kapitalverzehr mit verheerenden Folgen für die Bankbilanzen.
Der wirksamste Hebel gegen die Übermacht der Rating-Agenturen und gegen die fatalen, systemischen Folgen ihres Tuns wäre es daher, ihre gesetzmäßige Verkoppelung mit den Eigenmittelerfordernissen der Banken endlich aufzuheben. In der Praxis jedoch geschieht das Gegenteil: Trotz eklatanter Einschätzungsfehler der Agenturen bei zahlreichen Finanzprodukten und manifester Unbeholfenheit bei manchen Länder-Ratings bleiben ihre Bonitätsurteile in dem fälschlich als Ausweg aus der Krise gepriesenen Banken-Regelwerk „Basel III“ auch in Hinkunft das Maß aller Dinge.
Dabei wissen wir heute, wie sehr sie gerade bei den sogenannten „Verbriefungen“ versagt haben. Diese Bündelung von Forderungsbeständen zu Wertpapieren kam erst im letzten Jahrzehnt in Mode. Nur wenige, große Investmentbanken beherrschten diese Technik. Innerhalb weniger Jahre emittierten sie eine Vielzahl solcher „synthetischer“ Wertpapiere, die alle geratet werden mussten, um auf den internationalen Märkten Abnehmer zu finden. Eine Erfahrungskurve („Rating-history“), auf der man hätte aufbauen können, gab es für synthetische Anleihen nicht. Also übernahmen finanzmathematische Modelle die Aufgabe, die Ausfallwahrscheinlichkeiten der synthetischen Anleihen zu kalkulieren.
Die Rating-Agenturen bemühten sich um ihre massenweise synthetische Papiere emittierenden Investmentbanken-Kunden und kamen ihnen methodisch so weit wie möglich – oder besser gesagt: weiter als möglich – entgegen. Immerhin machten die Gewinne aus diesem Bereich kurz vor dem Zusammenbruch der Märkte für strukturierte Anleihen bereits mehr als vierzig Prozent der Gesamterträge der drei großen Agenturen aus. Die dabei eingerissenen Praktiken sind in den USA mittlerweile gerichtskundig.
Der rasante Aufbau des nach der Lehman-Insolvenz in sich zusammenbrechenden Kartenhauses von verbrieften Forderungen wurde durch das auf Risiko-Gewichtung nach Rating-Klassen abstellende Baseler Regulativ gefördert anstatt verhindert. Ausgezeichnete Ratings ermöglichten bekanntlich den Einsatz von nur 20 Prozent der im Normalfall erforderlichen Eigenmittel von 8 Prozent. So kamen viele Milliarden an solchen Verbriefungen in die Bücher der Banken, die dafür unter den wohlgefälligen Augen der Bankenaufsicht nur 1,6 Prozent Eigenmittel aufzuwenden hatten.
Wie dramatisch falsch die Einschätzungen der synthetischen Wertpapiere waren, zeigte sich erst in der Krise. Statt einer für zwischen 2005 und 2007 begebene Subprime-Anleihen in der Rating-Stufe Single-A angenommenen Ausfallwahrscheinlichkeit von 0,09 Prozent kam es im Jahr 2008 bei eben diesen Papieren zu tatsächlichen Ausfällen von 29,2 Prozent.
Ratings in der europäischen Staatsschulden-Krise
Ein zweiter Bereich, in dem die drei großen Rating-Agenturen Standard&Poors, Moody´s und Fitch in die Kritik kamen, ist ihre Methode der Bonitäts-Einschätzung von Staaten. Denn während sich die USA bei einem Verschuldungsgrad von fast 100 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und einer Netto-Neuverschuldung von mehr als 10 Prozent auch nach der Herabstufung durch Standard&Poors höchster Kreditwürdigkeit erfreuen, werden europäische Länder dem Anschein nach meist gerade dann um eine oder gar mehrere Bonitätsstufen abgewertet, wenn am vorangehenden Wochenende von Europas Finanzpolitikern ein neues Hilfspaket für ein Sorgenland beschlossen wurde.
Die daraus entstandene Forderung nach Schaffung einer eigenen europäischen Rating-Agentur, mit der das Oligopol der drei Marktführer aufgebrochen werden soll, ist zwar vernünftig, bringt aber keine – und schon gar keine rasche – Lösung. Eine neu gegründete Agentur würde von ihren eigentlichen Adressaten, den Kapitalmarktgläubigern, erst nach mehreren Jahren der Bewährung als eine um objektive Urteile bemühte Institution akzeptiert. Auch würde eine solche Neugründung nichts an der Tatsache ändern, dass das Ausfallrisiko der Anleihen einer ganzen Reihe von Euro-Staaten seit der Finanzkrise höher ist als je zuvor.
Weder den Rating-Agenturen noch den Gläubigern von Euro-Staaten ist nämlich vorzuwerfen, wenn sie wegen gesteigerter Ausfallrisiken solange mit Herabstufung der Bonität und Zurückhaltung von Anschlussfinanzierungen reagieren, bis das völlig offene Problem der künftigen Euro-Architektur grundsätzlich geklärt ist. Man muss von europäischer Politik nicht so wenig verstehen wie die anglosächsisch geprägten Bonitäts-Schiedsrichter, um angesichts der schwer einschätzbaren Verhaltensmuster der (währungs-)politischen Entscheidungsträger verunsichert zu sein.
Denn immer dann, wenn es um die zentrale Frage geht, ob das Staatsschuldenproblem eines Euro-Landes innerhalb der Euro-Zone gemeinsam zu lösen ist, oder ob die Verantwortung für die Wiedererlangung der Kapitalmarktfähigkeit ausschließlich beim einzelnen Staat liegen soll, laufen die Konzepte der maßgeblichen Politiker und Ökonomen diametral aus- und gegeneinander. Die unpopuläre, aber sachnotwendige Entscheidung, aus der Währungsunion unter dem Druck der Finanzkrise auch eine Fiskalunion mit Eurobonds zu schmieden, wird verdrängt und hinausgezögert.
Euro-Land vor dem Offenbarungseid
Die ersten Vorkehrungen gegen eine sich seit der Jahreswende 2009/10 im Zusammenhang mit dem Griechenlandproblem abzeichnende, systemische Euro-Krise erfolgten noch durchaus entschlossen. Im Mai 2010, knapp bevor die Banken aus Beunruhigung über mögliche Staatspleiten von den Sparern gestürmt zu werden drohten, entschieden sich Europas Politiker dafür, einen gemeinsamen Garantieschirm zu spannen. Im Herbst darauf, als auch Irland und Portugal gefährdet waren, musste dieser auf seine heutige Größe von EUR 750 Mrd. ausgeweitet werden.
Eine eigene Sondergesellschaft (EFSF) wurde geschaffen, um unter dem Schutz dieser Garantien internationale Anleihen aufzunehmen. Deren Erlös wird unter entsprechenden Auflagen an gefährdete Staaten immer dann weitergegeben, wenn deren eigene Anleihen auf den Kapitalmärkten nicht mehr zu vertretbaren Kosten unterzubringen sind. Im Juli dieses Jahres wurden die Befugnisse dieser Sondergesellschaft ausgeweitet, sie soll nach dem neuesten Diskussionsstand schon 2012 zu einem permanenten Stabilitätsmechanismus (ESM) ausgebaut werden, der einem Europäischen Währungsfonds weitgehend gleichkäme. Fraglich ist allerdings, ob wir angesichts politischer Widerstände gegen die parlamentarische Absegnung dieser Vorgangsweise noch genug Zeit haben, bevor uns die Marktkräfte zu viel weitergehenden Schritten zwingen.
Seit dem 21. Juli, jenem Tag, an dem die Gläubiger Griechenlands zum sogenannten „Haircut“ gedrängt wurden, ist nämlich klar geworden, dass die mit der Gründung des Euro verbundenen Versprechen nicht mehr gehalten werden können. Verschuldungskrisen von Euro-Mitgliedsstaaten sollen zwar gemeinsam gelöst werden – aber ohne direkte Budgethilfen. Immer größere Garantieschirme sollen einerseits die Fiktion des Zusammenhalts aufrechterhalten, während andererseits immer lauter die „no-bail-out-Klausel“ aus den Gründungsdokumenten des Euro beschworen wird.
Der Preis für diesen konzeptionellen Spagat ist eine massive Verunsicherung auf den Kapitalmärkten. Schon kursieren in den Wirtschaftsmedien Tabellen, aus denen hervorgeht, wer in welcher Höhe an Euro-Länder geliehen hat, die noch vor wenigen Monaten zu den für erstklassig gehaltenen Schuldnern gehörten und heute bereits als Wackelkandidaten beschrieben werden. Dafür, dass sie dem impliziten Euroland-Versprechen der Politik vertraut haben, müssen sich deren Gläubiger nun als Spekulanten bezeichnen lassen. Die beobachtenden Analysten, besonders begabt im nachträglichen Besserwissen, sind rasch mit der Bezeichnung „toxisch“ für die ehemaligen Wert-Papiere zur Hand. Man hätte doch von den Banken mehr Vorsicht bei ihren Engagements in hoch verschuldeten Euro-Ländern erwarten können, heißt es nun. Es sei daher nur gerecht, dass sie zur Kasse gebeten werden.
Mit Italien, dem drittgrößten Schuldnerland der Welt, ist hier allerdings eine neue Dimension erreicht. Mit einer Summe von 1,9 Billionen Euro ist seine Staatsverschuldung dreimal so hoch wie jene der drei derzeit schon vom Garantieschirm gestützten Staaten Griechenland, Irland und Portugal zusammen. Dass die Beteiligung privater Gläubiger bei Schuldenproblemen eines Euro-Landes erzwungen wurde, vermindert die Bereitschaft der internationalen Anleger, unseren südlichen Nachbarn Geld zu leihen, deutlich. Angesichts eines sehr hohen Refinanzierungsbedarfs in der zweiten Jahreshälfte kann sich daraus der nächste Gefahrenherd entwickeln. Ähnlich gilt für die schon bekannten Problemländer Portugal, Spanien, Irland und zuletzt Zypern.
Die als Folge der Unklarheiten über den Weg aus der Schuldenkrise verschärften Rating-Urteile gegen einzelne Euro-Länder werden sukzessive zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Denn als schlechtere Schuldner eingestufte Euro-Staaten erhalten – mit Ausnahme der Gelder aus dem Euro-Rettungsschirm – die zur Eindeckung über Neuemissionen erforderlichen Volumina nur mehr zu Zinssätzen mit prohibitiv hohen Risikoaufschlägen. Die durch kaum mehr leistbare Zinslasten weiter erhöhte Staatsschuld beschleunigt wiederum die Abwärtsspirale. Der Zeitpunkt, zu dem die Kapitalmarktreife der betroffenen Länder wiedererlangt werden sollte, verschiebt sich so in eine unbestimmte Ferne. Wer investiert auch noch in Staatsanleihen, deren immer negativere Beurteilung durch die Kapitalmärkte und die Rating-Agenturen zur vorhersehbaren, baldigen Wertberichtigung zwingt, und damit die Eigenkapitalsituation der Banken doppelt verschlechtert?
Dazu kommt auch diesmal wieder – wie zuletzt im Herbst 2008 – das wachsende Misstrauen zwischen den Banken. Der sogenannte Interbanken-Geldverkehr ist in den letzten Wochen stark zurückgegangen. Lieber parken die Banken ihr überschüssiges Geld zu schlechten Zinsen bei der EZB als dass sie es einer europäischen Partnerbank leihen, von der sie nicht wissen, ob sie wegen ihrer hohen Ausleihungen an problematische Euro-Länder morgen noch über genügend Liquidität verfügen wird. Nun kommt aber allein auf jene 90 europäischen Banken, die sich vor dem Sommer einem Stress-Test unterworfen haben, in den kommenden zwei Jahren eine kumulierte Refinanzierungs-Last von 5400 Milliarden Euro zu. Es wird schwierig bis unmöglich sein, diese Beträge unter den neuen Bedingungen, nach Platzen der Illusion des inneren Zusammenhalts von Euro-Land, zu leistbaren Bedingungen aufzubringen.
Die Stunde des Offenbarungseids für oder gegen ein Euro-Gebiet, das dauerhaft über einen echten Finanzausgleich, einen europäischen Währungsfonds und Euro-Anleihen verbunden ist, rückt jedenfalls näher. Alles andere als eine Weiterentwicklung in diese Richtung würde nicht nur einen folgenschweren Vertrauensbruch gegenüber den Gläubigern von Euro-Staaten darstellen, sondern auch den Abschied von jener ambitionierten europäischen Architektur, die seinerzeit der Schaffung des Euro zugrunde lag.
Die höchst unerfreuliche Alternative läge im ungeordneten Zerfall des Euro-Gebietes. Vom europäischen Traum der erfolgreichen Gemeinschaftswährung bliebe dann nach einer Phase schwerster wirtschaftlicher Turbulenzen nur mehr ein auf die nationalen Kapitalmärkte zurückgeworfenes Flickwerk ehemaliger Euro-Staaten. Alle Ambitionen, mit einer starken Euro-Währung den dahinter versammelten Volkswirtschaften mehr Durchschlagskraft im globalisierten Wettbewerb zu verleihen, wären damit endgültig Vergangenheit.
Dabei liegt die kumulierte Staatsschuld der Euro-Zone niedriger als jene der USA, Großbritanniens oder Japans. Eine Fiskalunion könnte also den Kapitalmärkten gegenüber durchaus gemeinsame Stärke zeigen. Wolfgang Kirsch, Chef der deutschen DZ-Bank, dem Spitzeninstitut der deutschen Genossenschaftsbanken, plädiert deshalb ganz klar für die Schaffung einer Transferunion. Seine bemerkenswerte Begründung: „Das Euro-Währungsgebiet ist unmittelbarer Ausdruck der europäischen Identität und ein entscheidender Treiber der Einheit Europas. Wir haben damit nicht nur dem währungspolitischen Flickenteppich in Europa ein Ende gemacht. Der Euro hat Europa ein deutlich größeres Gewicht in der globalisierten Welt gegeben und sichert für Europa die internationale Wettbewerbsfähigkeit als Standort – gerade mit Blick auf die aufstrebenden Märkte in Asien und Lateinamerika. … Unsere ursprüngliche Vorstellung von der Währungsunion – gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern volle finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitglieder – war von Anfang an ein Idealbild, das in der Gefahr stand, mit der Realität konfrontiert zu werden. Das ist jetzt passiert.“(Handelsblatt 21.07.2011).
Auch der durchaus nicht Euro-freundliche „Economist“ plädierte jüngst für eine offensive, europäische Lösung des Schuldenproblems, einschließlich einer neuerlichen Rekapitalisierung der Banken und der zügigen Schaffung von gemeinsam garantierten Eurobonds – allerdings verbunden mit strengen Auflagen, die sicherstellen, dass sie nicht hochverschuldete Länder zum Nachlassen ihrer Sanierungsanstrengungen verführen.
Die Mindestlösung sieht Thomas Mayer, der Chefökonom der Deutschen Bank, in einer zügigen Aufwertung des Rettungsfonds zu einem Europäischen Währungsfonds, der den einzelnen Ländern bis zur Überbrückung ihres Schuldenproblems gegen ebenso strenge Auflagen Hilfe leistet und sich seinerseits bei der EZB praktisch unbegrenzt refinanzieren kann.
Die politischen Ereignisse der letzten Tage und Monate zeigen allerdings, wie schwierig es geworden ist, ein gesamteuropäisches Konzept durchzusetzen. In den Parlamenten der Mitgliedsstaaten, die dem Kompromiss vom 21. Juli noch zuzustimmen haben, regt sich Widerstand. Er ist umso größer, je mehr die Ratlosigkeit nicht nur der europäischen Spitzenpolitiker sondern auch das Meinungsgewirr der sie beratenden Ökonomen sichtbar wird.
Darüberhinaus schadet es der Euro-Diskussion, dass sie nicht mit einem entschlossenen Programm zur längst überfälligen Disziplinierung des Finanzsystems einhergeht. Dazu bedürfte es allerdings einer einigermaßen einheitlichen Sicht auf die dort gegebenen Reform-Notwendigkeiten – eine angesichts der Unterschiedlichkeit der Finanzierungstraditionen des anglosächsischen Raumes gegenüber Kontinentaleuropa fast unlösbare Aufgabe.
Finanzmarkttraditionen im Konflikt
Europas Finanzsystem beruht traditionellerweise auf einer engen Verflechtung von Realwirtschaft und Banken. Die Bilanzen der Banken spiegeln die gesamtwirtschaftliche Dynamik wider, sie erfüllen als Dienstleister von Anlegern/Sparern und Kreditnehmern/Unternehmen ihre Kernaufgabe der Transformation von Risiken und Fristen. Stark vereinfacht gesagt: Banken nehmen Spargelder mit unterschiedlicher Veranlagungsdauer herein und machen daraus im Weg der Bündelung von Volumina sowie der Transformation von Fristen und Risiken Kredite für Unternehmen und Haushalte.
Im Gegensatz dazu ist das angloamerikanische Bankensystem immer schon stärker an Kapitalmärkten orientiert. Sie geben den Unternehmen die Möglichkeit, über Aktienemissionen und die Begebung von Anleihen schneller zu wachsen. Zweifellos begünstigte der Blick auf diese unbestreitbaren Vorteile der Kapitalmärkte deren weltweite Liberalisierung. Gleichzeitig übersah man jedoch die sich abzeichnenden Risiken einer ungezügelten Deregulierung. Geradezu euphorisch wurde jeder Schritt in Richtung „Entfesselung“ von lästigen Regeln begrüßt.
Als sichtbarstes Zeichen des Aufgebens bewährter europäischer Traditionen ist wohl der Ersatz des dem Gläubigerschutz und dem Vorsichtsprinzip verpflichteten, traditionellen Bilanzierungssystems (nach HGB bzw. UGB) durch die kapitalmarktorientierten Bilanzierungsregeln des anglosächsischen Raumes (IFRS) zu sehen. Die Orientierung am „fair value“ unterwirft alle Vermögenspositionen schwankenden Marktwerten. Sie begünstigt dadurch in guten Zeiten Wert-Übertreibungen und verstärkt in Zeiten der Abwärtsbewegung negative Trends.
So konnte das Finanzsystem weit über das realwirtschaftliche Wachstum hinaus durch spekulative Kreditgeldvermehrung expandieren. Niemand nahm daran Anstoß, dass sich im Vorfeld der Finanzkrise allein in den USA die aggregierte Summe aller Bankbilanzen verdoppelte, während die Summe der risikogewichtet ausgewiesenen Eigenmittel unverändert hoch blieb.
Wie drastisch die im Grundsatz immer noch gültige Regulierung ihr eigentliches Ziel verfehlte, das Bankensystem insgesamt stabiler zu machen, zeigt sich an der Tatsache, dass das regulatorische Kernkapital bei den größten 20 Banken der Vereinigten Staaten mit einer Quote von 11,7 Prozent unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Systems sogar übererfüllt war. Sogar noch höher lag es mit 12,3 bis 16,1 Prozent paradoxerweise ausgerechnet bei jenen fünf Finanzinstituten, die als erste aufgefangen werden mussten oder – wie im Falle Lehman – insolvent wurden.
Mitentscheidend für das Entgleisen des Finanzsystems war schließlich auch die Dominanz des „Shareholder-Value“ als übergeordnetes Unternehmensziel. Dessen treibender Gedanke ist, dass nur eine nahtlose Verbindung der Entwicklung von Unternehmen mit den Interessen der Finanzinvestoren eine effiziente Allokation ökonomischer Ressourcen sicherstellt. Dementsprechend wurden die Verdienst-Anreize für Manager nicht mehr vorwiegend an nachhaltigen Ergebnissen sondern in erster Linie an der Entwicklung des Börsenkurses ausgerichtet.
Die allzeit objektive Wertbestimmung durch Kapitalmärkte wurde bis heute den Lehrstoff an den Wirtschaftsfakultäten dominierende Theorien unterstützt, deren Gültigkeit mit der Krise grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Sie fördern die Ideologie einer grundsätzlichen Überlegenheit finanzwirtschaftlicher gegenüber realwirtschaftlichen Kalkülen. Das Unternehmenssystem, die unternehmerische Wertschöpfung, wird damit aber zum bloßen Objekt überwiegend kurzfristigen Finanzmarkt-Dispositionen degradiert.
Adair Turner, Chef der britischen Finanzaufsicht, wagte als einer der ersten Repräsentanten aus dem Herzen des Systems, dieses Defizit anzusprechen. „Auf der ganzen Welt haben wir uns zu sehr auf die Effizienz und die Selbstheilungskräfte der Märkte verlassen. Das ist ein grundsätzliches Problem des ökonomischen Denkens. In den vergangenen 25 Jahren haben die Volkswirte mit immer ausgefeilteren mathematischen Modellen zu beweisen versucht, dass Märkte effizient sind und sich Übertreibungen von selbst korrigieren. Sie haben den Zentralbanken und Aufsichtsbehörden geraten, sich herauszuhalten. Heute erleben wir nicht nur eine Krise des Finanzsystems, wir erleben eine Krise bestimmter intellektueller Annahmen, die sich schlicht und einfach als falsch herausgestellt haben.“ Deshalb übrigens trägt mein Buch den Titel „Der Markt hat nicht immer recht“.
Der aus Vertretern großer Notenbanken zusammengesetzte Ausschuss für Bankenaufsicht bei der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gibt sich von solchen Einwänden jedoch unbeeindruckt. Sobald es über regulierungstechnische Details hinaus an die Substanz des Problems geht, finden sich regelmäßig Forscher an Universitäten und Experten von Think-Tanks, die internationalen Großbanken und deren Lobby-Organisationen ideologischen Flankenschutz geben, wenn sie sich – wie schon vor der Krise – jede Einmischung in ihre riskante Geschäftsgebarung verbieten, widrigenfalls eine Kreditverknappung drohe.
Dieses Festhalten an den Glaubenssätzen der herkömmlichen Finanzmarktökonomie wird zunehmend zu einem demokratiepolitischen Problem. Denn wenn es wieder darauf hinauslaufen soll, dass Gewinne aus der Aufschwungphase den Spielern gehören und für die Verluste im Abschwung zur Abwehr einer noch größeren Katastrophe die Gesellschaft haften soll, wird es dafür nicht nur kein Geld mehr geben. Die Bürgerinnen und Bürger würden der Wiederholung einer derart asymetrischen Risiko-Verteilung zu Recht ihre Zustimmung verweigern.
Abschied von wirklichkeitsfremden Theorien
Kritik an einer von den Bedürfnissen der Gesellschaft weitgehend abgekoppelten Finanzwirtschaft kommt mittlerweile aus fast allen politischen Richtungen, ja sogar aus der Mitte der britischen Konservativen. Philipp Blond, Leiter des Think-Tanks Res Publica und wichtigster politischer Berater von Premierminister David Cameron sieht die Gefahr, dass das Finanzsystem in seiner heutigen Form unser Wirtschaftsmodell auf den Kopf stellt, weil es kurzfristigen Gewinn über den langfristigen Erfolg stellt. Sein lapidarer Schluss daraus: „Das angelsächsische Modell ist vorbei“.
Woher aber soll Orientierung kommen? Von Carl Friedrich von Weizsäcker stammt die Beobachtung, dass die jeweils geltende, „normale“ Wissenschaft meist über längere Zeit mit einem Paradigma arbeitet, dessen letzte Rechtfertigung sie selbst nicht kennt und nicht befragt, solange es den Kredit des Erfolges genießt. Daran gemessen, dürfte die Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Finanzwirtschaft gekommen sein.
Einer jener Querdenker, die uns das Einnehmen einer neuen Perspektive erleichtern, ist Nassim Taleb. Seine unkonventionelle Analyse über die Macht unerwarteter Ereignisse in dem Buch „Der schwarze Schwan“ wurde zum Bestseller. Taleb warnt vor jenem falschen Sicherheitsdenken, das mit der Theorie stets effizienter Märkte verbunden ist. Es ist eine Illusion, in einem offenen Marktsystem Wertschwankungen und spekulative Ausschläge vermeiden zu wollen. Entscheidend ist, dass solche Ereignisse verkraftbar bleiben und nicht zu einer Krise des Gesamtsystems führen.
Gerade das blinde Vertrauen auf wirklichkeitsfremde Wirtschaftstheorien führte ja zu den immer größeren, inflationären Kredit- und Schuldenblasen „systemrelevant“ gewordener Banken. Diese wurden für sicher gehalten, solange sie sich im Rahmen der vorgeschriebenen Eigenmittel-Kontrollmarken bewegten. Die Kontrollmaßstäbe selbst waren jedoch durch kapitalmarktorientierte Bilanzierung und blindes Vertrauen in Ratings in Wirklichkeit kraftlos. Der Kredithebel („Leverage“) des Finanzsystems wurde immer länger, die dadurch geschaffenen Ansprüche so lange höher, bis die unerfüllbaren Versprechen eine negative Spirale des Vertrauensverlustes ausgelöst haben.
Taleb plädiert vor allem deshalb für die Redimensionierung des internationalen Großbanken-Systems. Denn erst wenn sich Banken wieder auf ihre Kernfunktionen für Unternehmen und Anleger konzentrieren, werden sie nicht neuerlich zum Auslöser systemischer Risiken. Und er warnt er von einer Fortsetzung der wirklichkeitsfremden Modellgläubigkeit: „Wir glauben zwar nicht mehr an die Unfehlbarkeit des Papstes, aber offenbar immer noch an die Unfehlbarkeit des Nobelpreis-Komitees“. Damit spielt Taleb auf jene zahlreichen Nobelpreisträger an, die der illusionären, perfekten Welt stets effizienter Märkte einen ganzen Theorie-Teppich von in ihrer finanzmathematischen Ästhetik unübertrefflichen Modellen ausgerollt haben.
Wertschöpfung vor Geldschöpfung
Die Wiederholung einer Situation, in der eine selbstzweckhaft und dysfunktional agierende Finanzwirtschaft zu einer globalen Wirtschaftskrise führt, wird sich nur durch eine grundlegende Neuausrichtung der finanzmarktpolitischen Rahmenbedingungen vermeiden lassen. Die Finanzmärkte müssen auf Basis einer erneuerten Finanzmarkt-Theorie wieder in die Lage versetzt werden, vorrangig und nachhaltig ihre vitalsten Funktionen für die Bedürfnisse der Unternehmen und Privatpersonen zu erfüllen.
Es führt daher kein Weg daran vorbei, das Bankensystem unter Verzicht auf allzu temporeiche, überkomplexe Finanzinnovationen auf seine Kernfunktionen zurückzuführen und die jedem Finanzsystem innewohnenden Risiken durch kluge Spielregeln wirksam abzufedern, statt sie durch falsche Anreize noch zu verstärken. Vorbild für diese Transformation ist jenes erfolgreiche Zusammenspiel von Banken und Unternehmen, wie es jahrzehntelang für das kontinentaleuropäische Universalbankensystem kennzeichnend war – aber eben unter den neuen, herausfordernden Bedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft. Nur wenn Wertschöpfung wieder mehr gilt als Geldschöpfung, werden wir wieder größere Systemsicherheit bekommen.
Sogar Josef Ackermann ließ vor wenigen Tagen mit der Aussage aufhorchen, die Finanzwirtschaft möge doch „ihre Tätigkeit gründlich daraufhin überprüfen, ob sie ihren genuinen Aufgaben als Diener der realen Wirtschaft gerecht wird“, denn darin bestünde schließlich ihre Kernfunktion. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Max Otte, einer der wenigen Nationalökonomen, der die Krise etwa ein Jahr vor ihrem Ausbruch in einem Buch vorhersagte: „Wir müssen Finanzprodukte und Akteure strenger regulieren und die Finanzwirtschaft, die zu einem völlig unüberblickbaren Sektor geworden ist, neu ordnen. Wir sollten den Eigenhandel der Banken verbieten, wir brauchen eine Insolvenzordnung für Staaten und Banken und die Finanztransaktionssteuer. Zusätzlich brauchen wir mehr Eigenkapital. Es gibt zu wenig Eigenkapital, aber zu viele unregulierte Hedgefonds und Schattenbanken.“ (Format 33/11, S 26f.).
Auf dem Weg zu einer Werte-Wende
Horst Köhler, früherer deutscher Bundespräsident und ehemaliger Präsident der Weltbank, meinte zu Beginn des Sommers: „Dass Geld die Welt regiert, muss solange nicht beunruhigen, wie mit Geldschöpfung auch Wertschöpfung für die gesamte Gesellschaft verbunden ist. Davon haben sich aber Teile der sogenannten „Finanzindustrie“ verabschiedet. Die internationale Finanzkrise muss als Verpflichtung verstanden werden, den Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten durchzusetzen. (Handelsblatt 12/06/2011).
Dadurch, dass wir uns so sehr an die faktische Selbstregulierung der Geldwirtschaft gewöhnt hatten, entstand während der letzten Jahre ein ordnungspolitisches Vakuum. Wir müssen deshalb wieder ganz von vorne anfangen, am Leitbild einer verantworteten Marktwirtschaft zu arbeiten, deren Dynamik soziale Spaltungen verringert, statt sie zu vermehren. Walter Eucken, einer der geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“ nannte das „Ordnungspolitik“.
Das Entscheidende dabei: es gibt keine wertneutrale Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung eines Wirtschaftssystems. Eine erfolgreiche Wirtschaftsordnung ist kein Selbstläufer, wie uns das die Idealbilder von einer perfekten Marktökonomie vorgegaukelt haben. Neue Regeln allein genügen nicht, sie bedürfen auch der Verankerung in einem möglichst breiten, gesellschaftlich mitgetragenen Wertefundament.
Wir sind deshalb aufgefordert, wieder eine Perspektive zu entwickeln, die auch die Finanzwirtschaft auf gesamtwirtschaftliche Ziele verpflichtet, statt uns mit ihren autistischen Irrläufen weiter zu gefährden. Letztlich geht es um das gemeinsame Leitbild einer „sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten wirtschaftlich-produktiven Ordnung“. Diese Formulierung aus der jüngsten Sozialenzyklika („Caritas in veritate“) könnte als allparteiliche und überkonfessionelle Leitlinie zur Festlegung der Koordinaten einer wieder sach- und menschengerechteren Finanzmarktökonomie dienen.