Wirtschaft im Wertewandel

Presto ma non troppo - 8 Varianten zum Thema Wertewandel

 

Eröffnungsrede anlässlich der Donau-Festwochen 200

I.

Die Überschrift zu den folgenden Überlegungen ist dem Festwochen-Anlass entsprechend eine musikalische Tempo-Bezeichnung: PRESTO MA NON TROPPO – ich hoffe, der darin verborgene Hilferuf ist in unserer „Hektik-Welt“ (STS) selbsterklärend. Der Untertitel „Variationen zum Thema Wertewandel“ zielt ganz einfach auf die These, dass wir uns wesentlich intensiver als in den vergangenen Jahren mit Werte-Fragen auseinandersetzen müssen, wenn wir eine massive Vertrauenskrise unseres Wirtschaftssystems vermeiden wollen.

Es geht zunächst um die Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen auf den Kapitalmärkten, in den Unternehmen und in der Finanzwirtschaft auf die Stabilität unserer Wirtschaftsordnung. Lassen sich unerwünschte Auswüchse korrigieren? Wie gewinnen wir – Stichwort Globalisierung – Attraktivität und Glaubwürdigkeit für unsere Art zu Wirtschaften auch in anderen Teilen der Welt? Wie kann die so plötzlich als vordringlich erkannte Diskussion um unser Wertesystem zu neuen Antworten beitragen?

Jeremy Rifkin, einer der kreativsten Vordenker gesellschaftlicher Entwicklungstrends, hat sein jüngstes Buch mit der Frage eröffnet, ob eine Kultur überleben kann, wenn alle ihre Beziehungen nur kommerzieller Natur sind. Eine der möglichen Antworten darauf möchte ich in der Schlussthese dieses Vortrags anbieten. Sie lautet: shared values, also gemeinsame Vorräte an Werten und Vertrauen, sind für die Überlebensfähigkeit unseres Wirtschaftssystems wichtiger als eine einseitige Orientierung am Shareholder-Value.

II.

Das deutsche Manager Magazin, immer am Puls der Zeit befindliches Zentralorgan der selbstbewussten Wirtschaftseliten, widmete der Frage der Wirtschaftsethik vor kurzem eine eigene Titelgeschichte. Der Chefredakteur befand darin, dass (Zitat) „eine freiheitliche Wirtschaftsordnung ohne eine Mindestausstattung an gemeinsamen sittlichen Normen nicht arbeiten“ könne. Die Begriffe Moral, Ethik, Anstand gehörten auf die Agenda. Und der ehemalige BMW-Chef Joachim Milberg wird mit der Aussage zitiert, Moral sei eine Grundvoraussetzung für unternehmerischen Erfolg.

Gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem die Luft aus der Aktien-Spekulationsblase der New Economy und der Telekom-Unternehmen unter Zurücklassung unangenehmer Gerüche von Bereicherung, Anlegertäuschung und Bilanzfälschung geräuschvoll entweicht, entdecken die Wirtschaftsmedien plötzlich das Thema Wirtschaftsethik. Die amerikanische „Time“ betitelt ihren jüngsten Aufmacher mit „Losing Faith in Corporate America“ und mahnt neue Spielregeln auf dem Boden einer wiederhergestellten Geschäftsmoral ein.

Davor war das jahrelang kein Thema. Wer sich etwa gegen übertriebene Erfolgsbeteiligungen von Führungskräften über Aktienoptionen aussprach, musste damit rechnen, als altmodisch zu gelten. Wer sich mit guten Unternehmensergebnissen zufrieden gab und auf waghalsige Expansion mit fremdem Geld verzichtete, galt als träge. Und wer die in exorbitanten Kurssteigerungen wiedergespiegelten Wertsteigerungen von Unternehmen ihrer Substanz nach bezweifelte, wurde mit der Auskunft beschieden: der Kapitalmarkt hat immer Recht.

Mittlerweile wurde der Glaube an das ethische Fundament der entwickelten Wirtschaftssysteme heftig erschüttert. Zeitgleich mit dem drastischen Verfall der Börsenkurse seit Frühjahr 2000 wird plötzlich der angebliche „Sittenverfall“ (so titelt das Manager Magazin) der einstigen Helden des „Shareholder Value“-Zeitalters zum Thema. Berichte über die selbstbedienerische Bemessung von Spitzengehältern durch Top-Manager in zahlreichen von der Konjunkturkrise betroffenen Unternehmen sorgen für Aufregung. Vor allem der Konkurs des US-Energieriesen Enron, dessen Bilanzen sich als über Jahre weg gefälscht herausstellten wurde zum Symbol einer Systemkrise des Vertrauens-Kapitals.

In den letzten Wochen und Tagen hat sich die Meldungslage weiter zugespitzt. Allein bei Worldcom haben die Bilanzfälschungen den dreifachen Wert des bei Enron festgestellten Schadens erreicht. Xerox gab zu, Umsatzzahlen über mehr als eineinhalb Jahre gefälscht zu haben und mehr als 150 weitere Fälle von Bilanzbetrug sind in den USA mittlerweile anhängig.

Zahlreiche Anleger, die mit Spekulationen viel Geld verloren haben, entdecken, dass sie nicht nur Pech hatten, sondern bei manchen Emissionen regelrecht hinters Licht geführt wurden. Bei Untersuchungen in Investmentbanken fanden sich brisante, interne e-mail-Protokolle mit verächtlichen Aussagen von Wertpapier-Analysten zu riskanten, ja wertlosen Papieren, die sie am selben Tag den Anlegern zum Kauf empfahlen. Sie dienen nun als Gerichtsmaterial in einem Musterprozess gegen eine der grössten Investmentbanken der Welt.

Reales Kapital und Vertrauenskapital in noch nie gesehenen Grössenordnungen wurde innerhalb kurzer Zeit vernichtet. Die Folgen für die Pensionsfonds, die Alterssicherung von Mitarbeitern und die Verunsicherung der Konsumenten sind vor allem hinsichtlich der ohnehin noch sehr labilen Konjunktur noch nicht wirklich absehbar.

Wären es nur Einzelfälle, die man nach gerichtlicher Klärung und Verhängung gerechter Strafen ad acta legen könnte, fiele die Beunruhigung nicht so gross aus wie angesichts der Erkenntnis, dass die Erosion des Unrechtsbewusstseins die Grenzen von Gut und Böse in zahlreichen Unternehmen bis zur Unkenntlichkeit verwischt hat.

Das Thema betrifft längst nicht mehr nur die USA sondern auch Europa. Symbolhaft dafür ist der Neue Markt in Frankfurt, jene hoffnungsvolle Technologiebörse, an der zwischen 1998 und 2000 ein regelrechter Emissions-Boom für Goldgräberstimmung sorgte. Zahlreiche unternehmerische Leuchtraketen sind mittlerweile im Feuerwerkshimmel der Milleniums-Hausse verglüht oder so unsanft zu Boden gestürzt, dass sie heute ums Überleben kämpfen müssen.

III.

Beunruhigenderweise ist Europa gerade dabei, auf breitester Front die anglo-amerikanischen Spielregeln der Kapitalmärkte mit ihrer Fixierung auf die simple „Wahrheit“ des Börsenkurses unkritisch zu übernehmen. Jahrzehntelang bewährte Bilanzierungsregeln wie die des Handelsgesetzbuches werden zugunsten kapitalmarktorientierter Bilanzierungsregeln (wie US-GAAP und IAS) zurückgedrängt.

Man hat unseren traditionellen Bilanzen gemäss Handelsgesetzbuch vorgeworfen, sie seien zu gläubigerorientiert und versteckten stille Reserven des Unternehmens vor dem Anleger. Nun stellt sich heraus, dass die neuen Regeln zwar weniger gläubigerfreundlich sein mögen, ob sie aber auch wirklich anlegerfreundlicher sind, wie ihre Befürworter argumentieren, ist angesichts massiver, nicht zuletzt durch extensive Bewertungskunst herbeigeführter Anlegerverluste zweifelhaft. Mittlerweile ist die Verunsicherung über Bewertungsspielräume so gross, dass die Vergleichbarkeit von Unternehmensbilanzen in Frage steht.

Noch nie wurde so auffällig eifrig über neue Wohlverhaltensregeln in Unternehmen diskutiert wie gerade heute. Unter der Überschrift „Corporate governance“ werden feinziselierte Regelwerke erarbeitet, die das Zusammenspiel und die Gewaltenteilung aller für ein Unternehmen Verantwortlichen festlegen sollen. Allerdings geschieht auch dies unter unkritischer Übernahme des bis vor kurzem noch als gegenüber der traditionellen Aktiengesellschaft als überlegen gehandelten anglo-amerikanischen Gesellschaftsrechtes.

Aber je komplizierter diese erbaulichen Handbücher des unternehmerischen Wohlverhaltens werden, desto nüchterner ist die Erkenntnis, dass – völlig unabhängig von der gewählten Rechtsform – ohne ein gemeinsames Mindestverständnis von Anstand nicht nur Unternehmen, sondern ganze Gesellschaften in die Irre gehen können.

IV.

Auch in vielen Unternehmen, wurde das Vertrauen in die verantwortlichen Führungskräfte erschüttert. Wer als Mitarbeiter bei den Top-Managern egozentrische Verhaltensmuster erlebt, die am medialen Laufsteg der Ich-Aktionäre preiswürdig sein mögen, im Alltag aber untragbar sind, der tut sich mit der geforderten Loyalität schwer. Wo sich Mitarbeiter als Statisten in prestigebeladenen Schau-Spielen überschätzter Wirtschaftshelden fühlen, bauen sie schon aus Selbstschutz keine Bindungen zum Unternehmen auf. Und wer an der Länge des Gehaltszettels messen zu können glaubt, wieviel ein anderer „wert ist“, darf sich nicht wundern, wenn sein eigenes Selbst-Wertgefühl schwankt wie das zackige Kursbild der Technologiebörsen.

In Wahrheit stehen gerade in erfolgreichen Unternehmen Wertschätzung und  Wert-Schöpfung in engstem Zusammenhang. Auf der Ebene des Wirtschaftssystems gibt es dazu eine exakte Parallele: auch hier besteht ein untrennbarer Zusammenhang von ideellem Wertesystem und materieller Wertschöpfung. Schon Adam Smith, Aufklärer, Moralphilosoph und Begründer der Marktwirtschaft hat das Funktionieren des Marktes an bestimmte zivilisatorische Standards geknüpft. Seine „unsichtbare Hand“, jener in den Zeiten der Aufklärung geradezu als göttlicher Wink empfundene Mechanismus, mit dem in einer Wettbewerbswirtschaft aus millionenfachen eigennützigen Aktivitäten der Marktteilnehmer gesamtwirtschaftlicher Wohlstand entsteht, ist von der Einhaltung selbstverständlicher moralischer Grundregeln wie etwa der Vertragstreue abhängig.

Eine aktuelle Studie der OECD bestätigt klar, dass die immaterielle Grundlage der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt in eben jenem gesellschaftlichen Vertrauenskapital besteht, das sich aus lange geübten Fairness-Regeln und sozialem Zusammenhalt ergibt. Erfreulicherweise liegen in dieser Studie gerade die europäischen Staaten mit ihren sozial-marktwirtschaftlichen Traditionen in den vordersten Rängen. Offensichtlich wurden jedoch die traditionellen kaufmännischen Fairness-Regeln im Verlauf der aktuellen Kapitalmarktkrise in beachtlichen Teilen der Wirtschaftselite zugunsten einer simplen Ellbogen-Moral geradezu systemhaft ausser Kraft gesetzt. Die führende amerikanische Hotelkette Starwood liefert kürzlich mit den Ergebnissen einer Umfrage unter golfenden Top-Managern einen Indikator aus der Sportwelt: Angeblich gaben 82% der Befragten zu, beim Golf zu schwindeln – und ebensoviele zeigten sich empört darüber, dass sich ihre Konkurrenten genauso verhielten.

V.

Lässt sich dem gefährlichen Schwund von kaufmännischer Kultur und Vertrauenskapital anders entgegensteuern, als auf Besserung bei den vielen Einzelnen zu hoffen? Nun, traditionellerweise kann Wirtschaftspolitik entscheidend zur Bildung von solchem Vertrauenskapital beitragen, wenn sie in einer klugen Gewaltenteilung mit der Ökonomie Rahmenbedingungen schafft, unter denen die Marktkräfte freigesetzt und gleichzeitig wichtige gesellschaftliche Ziele erreicht werden können.

Nichts anderes besagt das erfolgreiche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das seit seiner ersten konkreten Anwendung in den Jahren des Wiederaufbaus einen bewusst eigenständigen Weg zwischen dem gescheiterten Neo-Liberalismus der Dreissigerjahre und dem Versagen der Planwirtschaften eingeschlagen hat. Die Soziale Marktwirtschaft (auch andere Bezeichnungen können eingesetzt werden – entscheidend ist das Prinzip des politisch verantworteten Zusammenspiels von Rahmenbedingungen und Marktdynamik) wurde als Synthese eines humanistisch geprägten Ordo-Liberalismus mit den Prinzipien christlicher Sozialethik in vielen Varianten zum kontinentaleuropäischen Erfolgsmodell. Sein Kurzprogramm lautet: Wohlstand für möglichst viele, sozialer Ausgleich für die Schwächeren und ein auf Nachhaltigkeit angelegter Umgang mit der Umwelt.

In den letzten Jahren scheinen wir Europäer die Erfolgsbedingungen dieses sozial-marktwirtschaftlichen Systems verdrängt zu haben. Jedenfalls war wenig europäischer Widerspruch zu merken, als plötzlich die „Marktwirtschaft ohne Vorzeichen“ (Vaclav Klaus) in Mode kam und der Staat in missverstandener neoliberaler Rhetorik sich mit der Rolle begnügen sollte, den Unternehmen möglichst nicht im Weg herum zu stehen. Auch häuften sich im Banne des Millenniums-Booms die wirtschaftspolitischen Unterwerfungsgesten gegenüber den aus einer völlig anderen Tradition kommenden neo-liberalen Wirtschaftsmodellen der anglo-amerikanischen Länder.

Die offensichtliche ordnungspolitische Selbstvergessenheit Europas geht eine Zeit lang gut, irgendwann aber doch an die Substanz, und zwar spätestens dann, wenn wir den gesellschaftlichen Nutzen und damit den Sinn eines gut gestalteten Marktwirtschaftssystems uns selbst und den nächsten Generationen nicht mehr erklären können.

Genau diesen Erklärungsbedarf aber müssen wir befriedigen, wenn es darum geht, die Vorzüge des sozial-marktwirtschaftlichen Systems bei uns selbst und im internationalen Gefüge einer globalisierten Wirtschaftsordnung zu verdeutlichen. Denn im Aufbau einer richtig gestalteten marktwirtschaftlichen Ordnung liegt für viele heute noch verarmte Länder der Schlüssel zu mehr Wohlstand und zur Entwicklung demokratischer Verhältnisse. Das wäre die richtig verstandene Form von erfolgreicher Globalisierung. Es genügt aber nicht, diesen Ländern globale Marktfreiheit als Instant-Lösung für alle Probleme anzudienen, ohne dass ein fundierterer ordnungspolitischer Ansatz mitgeliefert wird, der die Marktwirtschaft „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Wilhelm Röpke) richtig positioniert.

VI.

Vor drei Jahrzehnten gab der „Club of Rome“ mit seiner Studie über „Die Grenzen des Wachstums“ den Anstoss für einen ökologischen Reformschub des Marktsystems. Vor allem die europäischen Länder spannten dann in den Folgejahren erfolgreich die Dynamik der Märkte vor den ökologischen Karren, aus der sozialen wurde eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft.

Heute müsste der Arbeitsauftrag an den Club of Rome lauten, mit einem Reformschub in Richtung einer globalen Ordnungspolitik den Anstoss zur nächsten Erfolgsgeschichte zu geben. Es gilt, die Voraussetzungen zu erarbeiten, unter denen das Modell der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zum Schlüssel einer erfolgreichen Globalisierung werden kann. Denn die Grenzen des Wachstums liegen heute nicht mehr so sehr in den materiellen Ressourcen, sondern in den Grenzen des Vertrauens in ein allzu einseitig auf Kapitalinteressen fixiertes Bild der Marktwirtschaft.

Auch auf globaler Ebene geht es – wie auf der nationalen und europäischen Ebene – letztlich um Rahmenbedingungen, unter denen der Markt in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wirkt. Wir müssen uns mit der Frage befassen, wie die Ungleichgewichte zwischen den etablierten Marktwirtschaften und den im Übergang zum Marktsystem befindlichen Staaten und ihren Menschen einem Ausgleich näher gebracht werden können.

 

Die Instrumente dazu heissen faire Wettbewerbspolitik, vergleichbare Besteuerung unternehmerischer Wertschöpfung und Kapitaltransfers, aber auch die Einigung auf Durchsetzbarkeit sozialer wie ökologischer Mindeststandards. Diese Themen gehören auf die Tagesordnung der Welt-Organisationen, ohne dass die jeweils nächsten Chaos-Tage abgewartet werden. Und sie müssen gerade von uns in Sachen sozialer Marktwirtschaft erfahrenen Europäern wesentlich engagierter vorangetragen werden, als das bisher der Fall war.

VII.

Ein nachhaltiger Erfolg aller gesellschaftlichen Systeme und damit auch von Marktwirtschafts-Systemen kann sich nur einstellen, wenn sie neben der materiellen Wertschöpfung auch immaterielle Werte schöpfen, wenn sie „Sinn machen“ und deshalb als gesamtgesellschaftlich wertvoll angesehen werden. Fehlt dieses Element, geht auch der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren.

Thomas Middelhoff, Vorstandsvorsitzender des Bertelsmann-Konzerns, hat für die Sphäre des Unternehmens festgestellt, was auch für die Gesamtwirtschaft gilt: „Wenn Sie nur den Shareholder-Value verfolgen, dann kreieren sie ein inhaltsleeres, zielloses, wertloses Unternehmen. Der Wert eines Unternehmens bemisst sich danach, ob es wirklich shared values gibt“. Die Übertragung dieses Schlüsselsatzes auf unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem stellt zugleich meine Schluss-These dar. „Wenn ein Wirtschaftssystem nur den Shareholder-Value verfolgt, dann kreieren sie eine inhaltsleere, ziellose, wert-lose Gesellschaft. Der Wert eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bemisst sich danach, ob es wirklich shared values gibt.“

Ein Wirtschaftssystem und die ihm zugrundliegenden Handlungsmuster lassen sich nicht einfach abtrennen von einer jeweils beliebigen, privaten Wertewelt. Beide Sphären haben in einer für uns alle bedeutsamen Weise miteinander zu tun. Die bisherigen, so beeindruckenden Erfolge unseres Wirtschaftssystems sind ja ganz wesentlich der Tatsache zu verdanken, dass es von den Ursprüngen an wert-orientiert erdacht und weiterentwickelt wurde. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir auf Basis dieser Erfolge endlich wieder eine tragfähige Zukunftsdiskussion über die Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems beginnen.

Wir erleben ja gerade deshalb eine Systemkrise der maßstab-losen Unersättlichkeit, weil es in einer nach shareholder-value-Kriterien konstruierten Idealwelt das Wort „genug“ nicht geben kann. Es stellt sich heute heraus, dass genau aus diesem Grund eine einseitige shareholder-value-Orientierung massiv destabilisierend wirkt. Die aus reinem Größen-Wahn hastig zusammengezimmerten Firmen-Konglomerate sind offenkundig anfälliger als Unternehmen, die überwiegend aus eigener Finanzkraft gewachsen sind. Und die Illusion, mit Finanztransaktionen ohne realwirtschaftlichen Bezug könne man rascher zu Massenwohlstand kommen als mit realen Bemühungen in konkreten Unternehmen hat sich als Trugbild erwiesen. (Das wäre im Prinzip eine gute Nachricht, hätte sie nicht gerade jetzt so unangenehme, konkrete konjunkturelle Auswirkungen auf die Mehrzahl der immer am Boden gebliebenen, soliden Unternehmen).

VIII.

„Shared values“, gemeinsame Werte-Vorräte, sind aber nicht nur lebens-wichtig für die Regeneration unseres Wirtschaftssystems und unserer Gesellschaft. Sie geben uns eine erlebbare Grundlage für Massstäbe, die sich nicht am Materiellen allein messen und bringen uns damit auch sonst auf den Boden zurück. Sie bilden die Basis für eine Balance zwischen den Werte-Welten in Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen den Sphären des Berufes und der Familie wie der Freunde, zwischen den Sphären der Leistung und der produktiven Anspannung und jener der Rückbesinnung, der Sinne und des Lebenssinns.

Musik-Feste bieten wunderbare Gelegenheiten, diesen Lebenssinn zu spüren und aus ihm neue Kraft für den Umgang mit einer immer rascher sich ändernden Umwelt zu schöpfen. Je schneller der Wandel vor sich geht und je intensiver er uns als lernende, arbeitende und füreinander Sorgende fordert, desto grösser ist die Notwendigkeit und unser Bedürfnis nach solchen Lebens-Festspielen.

Im musikalischen Zusammenspiel, im Zuhören- und im Mitgeniessenkönnen spiegeln sich die Muster erfolgreicher privater und gesellschaftlicher Umgangs-Formen. Wenn wir sie richtig verstehen und einüben, geht es uns auch im Alltag besser. Das Zusammenspiel musikalischer Formationen wie jenes des Vienna Art Orchesters, das wir heute Abend noch hören werden, gibt ein lebendiges Beispiel dafür.

 

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