die furche - 97

Europa - Messe ohne Glauben

 

Vor einem halben Jahrzehnt, im August 2007, brach die Meldung von der Zahlungsunfähigkeit der traditionsreichen deutschen Industriekreditbank wie ein heftiges Sommergewitter über die Finanzmärkte herein. Aus einer amerikanischen Immobilienkrise („Subprime“) war mit einem Mal auch ein europäisches Problem geworden. Als ein Jahr danach die Investmentbank Lehman Brothers bankrott wurde, konnte eine Total-Entgleisung des globalen Finanzsystems nur mehr durch Staatsgarantien und Liquiditätshilfen der Notenbanken verhindert werden.

 

Hohe Folgekosten von Konjunkturstützung, Bankenrettungen und Steuerentfall stürzten die Staatshaushalte in eine Schuldenkrise. Während jedoch die USA ihren immer höheren Schuldenberg mit Notenbank-Hilfe zu äußerst niedrigen Zinskosten finanzieren, sind der europäischen Notenbank EZB die Hände gebunden. Mit den ersatzhalber geschaffenen Rettungsschirmen und Sonderfonds lässt sich zwar Zeit kaufen, sie ersparen uns jedoch keinesfalls die Korrektur einiger unleugbarer, fundamentaler Konstruktionsschwächen des Euro.

 

Europa sieht sich unvorbereitet zur verfrühten Beantwortung einer existentiellen Frage gezwungen, von der man gehofft hatte, sie würde sich mit der Zeit von selbst klären: reicht ein Währungsverbund oder bedarf es einer Fiskalunion? Die Suche nach einer Antwort wird zur demokratiepolitischen Feuerprobe.

 

All die ambitionierten Manöver zur Sanierung des Banken- und Eurosystems bringen uns dem Ziel der Beendigung der permanenten Doppelkrise zwar näher. Dass es jedoch zu ihrer nachhaltigen Beseitigung einer viel tiefer gehenden Neuorientierung bedarf, wird mittlerweile selbst den langjährigen Apologeten der „reinen Lehre“ bewusst.

 

So zog kürzlich niemand geringerer als Norbert Walter, der langjährige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, im Zusammenhang mit irrational hohen Zinskosten für spanische Staatsanleihen gegen das Glaubensbekenntnis der „Marktradikalen“ ins Feld, der Markt hätte immer recht. Und Henrik Müller, Chefredakteur des deutschen „Manager Magazin“, plädiert für eine Rückkehr zu konservativeren Formen des Kapitalismus. Denn Volkswirtschaften, in denen mit immer höherer Verschuldung immer weniger reale Wertschöpfung entsteht, seien schlicht „degeneriert“.

 

Der gemeinsame Tenor der marktfreundlichen Reformer, die nicht mit Marktradikalen verwechselt werden wollen: Die Politik muss ihre Handlungsfähigkeit zur Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen zurückzugewinnen, statt ständig nur nach der Pfeife „der Märkte“ zu tanzen. Zugleich aber muss sie überall dort, wo es an gesunder marktlicher Dynamik fehlt, neue Spielräume für Innovation und Wertschöpfung eröffnen.

 

Unsere Chance besteht darin, aus dieser Grundhaltung einer „verantworteten Marktwirtschaft“, in der Werte und Wertschöpfung zusammengehen, ein erneuertes Leitbild für Europas Bürger zu entwickeln. Gelingt uns das nicht, dann würde Europa in der unnachahmlichen Formulierung von Jacques Delors, einem der Väter des Euro, wohl bald zu einer „Messe ohne Glauben“.

30. August 2012

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