die furche - 96

Der Finanzkaiser neue Kleider

 

Ganz in der Nähe meiner Wohnung liegt die Werkstätte eines freundlichen, aus der Türkei stammenden Reparatur- und Änderungsschneiders. Die großen Auslagen seiner Geschäftsräume waren früher meist mit Stoffresten, Preisschildern oder historischen Bügeleisen mehr vollgeräumt als dekoriert. Seit einiger Zeit aber drängen sich dort Torsi von Auslagenpuppen, die man in zerrissene Jeans gezwängt hat. Diese dienen nicht etwa als Werbung für die Nähkünste des Schneiders, sondern stehen als ganz normale Handelsware zum Verkauf.

 

Der zum Boutiquenbesitzer aufgestiegene Handwerker bezieht die modische Kollektion vermutlich aus seiner ursprünglichen Heimat. Einige seiner Landsleute haben sich dort auf die gewerbsmäßige Verwüstung ansonsten unverwüstlicher Stoffe spezialisiert. Dass die Sandstrahlbehandlung in den Hinterhöfen anatolischer Nähereien häufig zu schweren gesundheitlichen Schäden führt, wird ihm wohl nicht bewusst sein – und selbst wenn, er könnte daran nichts ändern.

 

Die in den unterschiedlichsten Blautönen schattierten Hosen kommen umso teurer, je zerklüfteter sie sind - denn bis der gewöhnliche Verschleiß zur Zerrissenheit führt, würde es Jahre dauern. Reißt jedoch eine Jean während ihres Gebrauchs unabsichtlich, weist sie demgemäß einen richtigen, gewissermaßen authentischen Riss auf, dann würde sie sofort zu einem Fall für die Reparaturschneiderei. Diese durch jahrelanges Tragen aufgeriebene Hose mit ihrer fast unmerklichen Reparaturnaht würde aber neben den multipel beschädigten Boutique-Exemplaren geradezu armselig wirken.

 

Eine vom Augenblick der ersten Inbetriebnahme an nach allen Regeln der Kunst zerrissene Jean darf demnach keinesfalls genäht werden. Der hohe Aufpreis für die textilen Schürfwunden wäre dann nämlich umsonst bezahlt worden. Während also Beschädigungen einer Ware im Normalfall zu starken Preisminderungen führen oder sie sogar unverkäuflich machen, werden sie hier zur beinahe unbezahlbaren Kostbarkeit. Es kommt eben nur auf die Einstellung an, ob ein Defekt als Zierde oder Schadensfall eingestuft wird.

 

Man erwirbt mit der Zerrissenheit der Hose den Gegenwartswert des Versprechens auf eine abenteuerliche Zukunft. Wer daran glaubt, der erweist sich als Anhänger der „true religion“ – so der wohl nicht zufällige Name einer im Verschleiß zerrissener Hosen besonders erfolgreichen Handelskette.

 

Wo hingegen die versteckten Webfehler der „true religion“ einer blinden Kapitalmarktorientierung liegen, wissen wir erst seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Was jahrelang als Tugend gegolten hatte, nehmen wir nun als schadhaft wahr: überhöhte Bonuszahlungen, intransparente Finanzinnovationen, für bare Münze genommene Ratings, beinahe unlimitierte Kredit-Geldschöpfung, hochkomplexe Steuervermeidungs-Konzepte, auftraggeberkonforme Gutachten.

 

Die Reparaturarbeiten stehen erst ganz am Beginn und über das Aussehen der neuen Kleider unserer Finanzmarktkaiser wird noch gestritten. Daran kann auch mein Änderungsschneider nichts ändern.

 

16. August 2012

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