„Selbst dem Klügsten lässt sich das Allereinfachste nicht erklären, wenn er sich fest einbildet, bereits genau zu wissen, worum es geht“ erkannte leicht resignierend schon Leo Tolstoi. Lebte er heute, hätte er diesen Satz wohl auch auf die Lobbyisten der internationalen Großbanken gemünzt. Denn trotz massiver Fehlentwicklungen des Bankensystems wehren sie grundlegende Reformen hartnäckig ab, finden sich aber an vorderster Stelle der öffentlichen Diskussion, wenn es darum geht, das europäische Sozialstaatsmodell als Wurzel aller Budgetübel darzustellen. Zuletzt erklärte sogar EZB-Präsident Mario Draghi mit für einen Spitzenvertreter der Gemeinschaftswährung ungewöhnlicher Forschheit das deutsche Sozialmodell für tot.
Von einer Besorgnis, dass womöglich das herrschende Finanzmodell tot ist, war hingegen bis heute nichts hören. Dabei ist die Staatsschuldenkrise in Europa eine direkte Folge der Finanzkrise, und nicht umgekehrt. Der viel gescholtene und immer wieder verletzte Euro-Stabilitätspakt mit seinen Maastricht-Kriterien wurde nämlich in den Jahren vor der Lehman-Pleite erstaunlich gut eingehalten – zumindest im Durchschnitt der Euro-Staaten. Dann aber schlugen die Folgekosten der Finanzkrise – Bankenpakete, Konjunkturstützen und Budgetlöcher infolge der kurzen, heftigen Rezession – voll zu. Das Sonderproblem Griechenland allein hätte nicht so viele Euro-Staaten in Finanzierungsnöte auf den Kapitalmärkten gebracht.
Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wird nun zwar Zeit gekauft. Es kann aber wohl nicht lange dauern, bis er wieder gebrochen werden muss und die damit verbundene Strafandrohung zur Farce wird. Allein Italien, das über ein ganzes Jahrzehnt auch mit 120 Prozent Staatsverschuldung seiner Wirtschaftsleistung reibungslos zu frischem Geld kam, soll sich nun plötzlich auf 60 Prozent zurückschrumpfen, indem es zwei Jahrzehnte hindurch seine Schulden um jährlich 3 Prozent reduziert. Ein solches Ziel ist ohne Rezession nicht erreichbar. Eine Verankerung in der Verfassung garantiert eben noch nicht, dass sich die ökonomische Wirklichkeit an Verfassungsbestimmungen hält.
Die Sanierung der Budgets ist eine wohl notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingung für die Beendigung einer viel tiefer wurzelnden Systemkrise. Viele Bürger spüren das, auch wenn sie keine Experten sind, und erwarten sich die gleiche Konsequenz, mit der die Krisenfolgen in den Staatshaushalten bekämpft werden, bei der Bekämpfung der in der Finanzwirtschaft begründeten Krisenursachen.
Das vollständige Zitat Tolstois beginnt übrigens mit einem Satz, der neuen Schwung in die von starren Dogmen blockierte Finanzmarktdiskussion bringen könnte: „Auch der schwierigste Sachverhalt ist dem zu vermitteln, der noch keine Vorstellung davon hat.“ Wenn das so ist, könnten wir Diskussionen um Finanzthemen, bei denen es um die Zukunft unserer Gesellschaft geht, offener und politischer austragen, statt sie nur Ideologen der reinen Lehre zu überlassen.
29. März 2012