Als ich im Vorfeld der EU-Weiterungsrunde des Jahres 2004 in einem kritischen Gastkommentar meinte, Befürworter einer Vertiefung könnten nicht gleichzeitig für eine so großflächige Erweiterung um gleich zehn Staaten eintreten, erntete ich Kritik von Geschäftsfreunden und aus der Politik. Meine Einschätzung sei wohl ein Missverständnis und man hoffe, ich sei nicht ins Lager der Bedenkenträger übergewechselt. Später, als einige der neuen Beitrittsländer bereits den Euro adoptiert hatten und alles ganz gut zu funktionieren schien, hatte ich mich längst von meiner anfänglichen Skepsis distanziert. Die europäischen Schicksalsfragen von heute aber wiegen schwerer und es gelingt mir nicht mehr so leicht, sie zu verdrängen.
Die Wucht der Finanzkrise hat das Euro-Konstrukt in seinen Grundfesten erschüttert und aus vermeintlich harmlosen Anfangsschwächen systemische Bedrohungen gemacht. In der Doppelzwinge von Finanz- und Staatsschuldenkrise ist auch das Nachdenken über den Austritt einzelner Länder kein Tabu mehr, selbst wenn es dafür – noch – kein Drehbuch gibt. Vielleicht ist die Währungsunion ja gerade deshalb gefährdet, weil sie als unauflöslich konzipiert ist und Notausgänge bewusst nie eingeplant waren.
Auch nach dem Gelingen des griechischen Schuldenschnitts gilt, dass in näherer oder mittlerer Zukunft eine Entscheidung zu treffen sein wird: entweder für eine letztlich zentralistische Fiskalunion oder für einen loseren Verbund, der das Risiko eines zumindest partiellen Scheiterns beinhaltet. Da das Entweder demokratiepolitisch nur bedingt wünschenswert ist und aufgrund der hohen Produktivitätsunterschiede innerhalb von Euroland keinen definitiven Erfolg verspricht, bleibt die Hoffnung, dass das Oder einigermaßen gelingt. Ein nicht besonders attraktives Dilemma.
Sollte die beschirmende Wirkung der diversen Euro-Rettungs-Instrumente einmal nicht mehr ausreichen, werden wir jedenfalls erfahrene Realisten brauchen, die bei fester Verankerung in europäischen Werten den Mut aufbringen, den schrittweisen Rückzug von nicht mehr einlösbaren Größenphantasien vorzubereiten. Wo aber finden wir solche Rück-Baumeister Europas, denen wir Planung und Umsetzung der bevorstehenden Umbauarbeiten zutrauen können, ohne dass sie das Gebäude zum Einsturz bringen?
Wie schwierig das sein wird, wurde mir im Gespräch mit einem erfahrenen österreichischen EU-Diplomaten bewusst. Zu meiner Überraschung gestand er ein, schon seit längerem eine Stunde der Wahrheit herbeizusehnen. Die Europa-Politik, so meinte er, müsse sich endlich bescheiden und sich von der bisherigen Dominanz linearer Vergrößerungs- und Erweiterungsmodelle verabschieden. Selbst das Bild vom Europa der zwei Geschwindigkeiten sei längst überholt – in Zukunft gehe es vielmehr um eine „flexible Geometrie“ der differenzierten Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten. Ich werde den Verdacht nicht los, dass er diese Formulierung gewählt hat, um nicht von einer „Quadratur des Kreises“ sprechen zu müssen.
15. März 2012