die furche - 80

Augenblicke ohne Zeit

 

„Alle Erinnerungen löschen?“. Ich stocke meist kurz, bevor ich die Routine-Frage meines elektronischen Kalenders durch einen Druck auf den „Ja“-Knopf beantworte – so als beunruhigte mich die Vorstellung, damit womöglich mein eigenes Gedächtnis zu manipulieren. Andererseits: wer wollte leugnen, dass eine smarte Funktionstaste mit der Bezeichnung „Ausgewählte Erinnerungen löschen“ mitunter durchaus willkommen wäre?

 

Bis eine solche Lösch-Hilfe erfunden wird, schaffen wir uns am wirkungsvollsten Abhilfe mit selektiver Wahrnehmung. Etwa, indem wir all jene Meldungen ignorieren, die redundanten Schrecken auslösen, indem sie uns an die Jahrestage längst vergangener Katastrophen erinnern. So verheerend beispielsweise die Folgen des Tsunami an der thailändischen Küste waren: das jährliche Wieder-Hervorrufen der Erinnerung an dieses Ereignis kurz nach Weihnachten ist nichts als ein gedankenloser medialer Pausenfüller in meldungsarmen Tagen.

 

„Der Augenblick ist ohne Zeit“ nennt Leonardo da Vinci in einem seiner Aphorismen jenen kostbaren Zustand, den wir mitunter in den zeitlosen Tagen zwischen den Jahren erleben können. Ihn müssen wir vor Stimmungen schützen, wie sie durch derartige Betroffenheits-Informationen hervorgerufen werden.

 

Wohl auch deshalb mache ich einen großen Bogen um detailreiche Jahresrückblicke. Von der arabischen Revolution über Fukushima bis zur Schuldenbremse überblättere ich die zeitraffenden Konvolute. Sie beweisen eindrucksvoll, dass wir vor einem Jahr um die gleiche Zeit wirklich nicht wussten, was auf uns und die Welt zukommen wird. Ein guter Grund, sich auch die vielen Ausblicke und Prognosen für das Neue Jahr zu ersparen.

 

Nicht einmal die Schlagzeile „Das Börsenjahr 2012 wird besser als gedacht“, mit der eine Wirtschafts-Tageszeitung die Zukunft schon jetzt auf eine bestimmte Kursentwicklung verpflichten wollte, konnte mich davon abbringen.

 

Zwar ergeben sich wesentliche Geschehnisse aus linearen, heute schon absehbaren Entwicklungen. Systemische Brüche aber, wie die Finanzkrise sie ausgelöst hat, sind zwar erwartbar oder sogar wahrscheinlich, aber nicht vorhersehbar. Schon deshalb kann derzeit niemand sagen, wie es mit dem Euro weitergeht, dessen zehnter Geburtstag soeben sang- und klanglos vorstrichen ist.

 

Ein paar Tage noch dürfen wir auf einen Neubeginn hoffen und darauf, dass möglichst viele Angehörige der finanzwirtschaftlichen und politischen Eliten die gestundete Zeit um die Jahreswende genutzt haben, klüger zu werden und sich ernsthafter als bisher um die Folgen ihres Tuns zu sorgen. Dann könnte es ein Jahr werden, in dem gut durchdachte und professionell vorbereitete politische Entscheidungen ohne übertriebene Rücksicht auf parteiliche Empfindlichkeiten umsetzbar werden.

 

Ein zugegebenermaßen unbescheidener Anspruch, den schon Johann Wolfgang von Goethe zu relativieren wusste: „Wenn der Mensch alles leisten soll, was man von ihm fordert, so muss er sich für mehr halten als er ist.“ 

5. Jänner 2012

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