die furche - 76

Verdrängte Wahrheiten

 

Vor einigen Tagen, während wieder einmal um die endgültige Lösung des Euro-Dilemmas gerungen wurde, bestritt ich auf Einladung der Akademie Graz einen Diskussionsabend mit Anneliese Rohrer zu den Ursachen und Auswegen aus der Finanzkrise. In ihrer Streitschrift über das „Ende des Gehorsams“ benennt die couragierte „Mutbürgerin“ treffsicher die Schwachstellen der österreichischen Realverfassung. Umso mehr freute ich mich auf unser Gespräch.

 

Vor allem die anschließende Podiumsdiskussion, von der erfahrenen Publizistin klug moderiert, hatte es in sich. Denn praktisch alle Fragen spiegelten die Erosion des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Lösungskapazität der politischen und wirtschaftlichen Eliten wider. Die Orientierungslosigkeit der Regierenden und ihrer sie beratenden Experten gefährdet mittlerweile das gesamte europäische Projekt, nachdem es eine ganze Generation politisch inspiriert und getragen hat. Und sie knappert an unserem Selbstvertrauen, das Geschehen beeinflussen zu können.

 

Dabei wären gerade jetzt alle demokratiepolitischen Ressourcen zu mobilisieren, um unsere Wirtschaftsordnung von innen heraus zu erneuern, statt auf das ganz Andere zu hoffen. Denn mit romantisierenden Gegenentwürfen einer Welt ohne Geld, die nur mehr Gemeinwirtschaftliches im Sinn hat, geht wertvolle intellektuelle und zivilgesellschaftliche Energien verloren, die für die eigentlich anstehende Reformarbeit dringend benötigt würde.

 

Die aktuelle Meldungslage verstärkt jedoch das Misstrauen der irritierten Bürger. Als etwa internationale Großbanken in diesen Tagen überraschend positive Quartalergebnisse verkündeten, entpuppten sich diese bei näherem Hinschauen als bloße Bilanzierungs-Kapriole: weil nämlich diese Banken derzeit als riskant gelten, liegen die Kurse der von ihnen seinerzeit begebenen Anleihen weit unter dem Ausgabewert. Die – negative – Differenz darf als Gewinn ausgewiesen werden. So rechnet man sich mit Scheingewinnen reich.

 

Ähnliche Zaubereien spielen sich vor unseren Augen ab, wenn schon kurz nach der Billigung des Stabilisierungsfonds EFSF durch die Euro-Parlamente über seine „Hebelung“ und damit ein deutlich größeres als das soeben beschlossene Risiko verhandelt wird. Dergleichen Finanz-Alchemie erhöht die Unsicherheit.

 

Dennoch war nach einer intensiven und hitzigen Diskussion im Saal ein erstes, nüchternes Einvernehmen darüber erkennbar, dass wir den vierfachen Umbau wagen sollten: Ausbau von Euro-Land zur Fiskalunion, Schaffung eines nachvollziehbaren Regelwerks für den Schuldenabbau, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit schwacher Mitgliedsländer und Disziplinierung des Finanzsystems.

 

Dass es zu diesem Reformpaket keine vernünftige Alternative gibt, erschien mir nach diesem Abend als eine zumutbare Wahrheit - eine Zumutung hingegen, sie noch länger zu verdrängen. Ob wir es mit Mutbürgern oder Wutbürgern zu tun haben, liegt deshalb auch an unserer Bereitschaft, die Probleme realistisch und offensiv anzugehen.

3. November 2011

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