In der Kaskade der Skandalmeldungen aus der Unternehmenswelt stellt sich immer lauter die Frage nach der Verantwortung der Aufsichtsräte: Haben sie weggeschaut oder waren sie gar Komplizen? Nun, einige haben ihre Aufgabe wohl zu leicht genommen, die Mehrzahl aber arbeitete meiner Überzeugung nach korrekt. Meine Erfahrungen in zahlreichen Aufsichtsräten von Unternehmen mit unterschiedlichen Eigentümerstrukturen (darunter seit 2005 in der Telekom Austria) haben mich zur Überzeugung gebracht, dass ihre Einflussmöglichkeiten regelmäßig überschätzt werden. Das zeigt die offensichtliche Machtlosigkeit gegen externe Schocks (Finanzkrise) und betrügerische Handlungen im Unternehmen.
An der Finanzkrise sind auch Banken und Unternehmen gescheitert, deren verantwortliche Organe bis zuletzt ihr Möglichstes getan haben. Und korruptive Strukturen in Teilbereichen eines Großkonzerns können jahrelang nicht nur deren Vorstandskollegen und den Wirtschaftsprüfern, sondern eben auch dem Aufsichtsrat verborgen bleiben.
Die Rolle von Aufsichtsräten lässt sich besser vor dem Hintergrund des Wandels der Unternehmenskultur seit Mitte der Neunzigerjahre verstehen. Damals geriet die kontinentaleuropäische Unternehmenswelt in die Defensive gegenüber den Spielregeln börsennotierter Kapitalgesellschaften. Die Nacheiferung angloamerikanischer Vorbilder reichte von der Übernahme kapitalmarktorientierter Bilanzen bis zur Einführung finanzmarktbezogener Bonus-Systemen für Manager.
Die meisten der sogenannten „Incentive-Programme“ für Führungskräfte stellten zunächst vor allem auf die Steigerung von Kurswerten an der Börse ab. Am Fall der Telekom Austria lässt sich die Unsinnigkeit dieser einseitigen Messlatte ablesen. Bei Erreichen eines bestimmten Börsenkurses in einem definierten Zeitraum sollte an Führungskräfte eine satte Prämie ausgeschüttet werden – bei dessen knapper Verfehlung hingegen gar nichts. Im damaligen Umfeld erschien dieses Anreizsystem geradezu zwingend, wollte man doch auch die US-Anleger an der New Yorker Börse für sich begeistern.
Schon seit einigen Jahren setzt man nun, wie in anderen vergleichbaren Unternehmen, längst auf nachhaltigere, mehrjährige Zielgrößen, die im übrigen um teures Geld von denselben hochspezialisierten Beratern empfohlen werden, von denen auch die früheren Modelle stammten. Ständig überarbeitete Regelwerke mit attraktiven, weltläufigen Überschriften („Corporate Governance“, „Compliance“) sollen überdies bei allen börsennotierten Unternehmen für eine zeitgemäße, aktionärsfreundliche Ausrichtung und Wohlverhalten sorgen.
Die Erfüllung von immer sophistizierteren Regeln kann aber eigenverantwortliches Handeln nicht ersetzen. Dazu gehört, dass auch Aufsichtsräte aus Schaden klug werden und die einseitige Orientierung unseres Wirtschaftssystems an den vermeintlich objektiven Gesetzen des Kapitalmarktes entschieden hinterfragen. Nur so lässt sich wieder jene Bodenhaftung in der realen Wirtschaft zurückgewinnen, die die Tätigkeit der Aufsichtsräte erst sinnvoll und nützlich macht.
22. September 2011