Schon die Auswahl des Lieferanten war keine triviale Entscheidung zwischen mehr oder weniger kostengünstigen Anbietern. Erst mussten die Spezifikationen des Liefergegenstandes sorgfältig definiert und auf unterschiedliche Einsätze abgestimmt werden. Das Vorgängermodell war in seiner Überkomplettheit für differenzierte Anwendungen unbrauchbar geworden. Auch deshalb erarbeitete diesmal eine internationale Kommission der Besten ihres Faches die Ausschreibungsbedingungen.
Nach Beauftragung des geeignetsten Unternehmens wurde zwei Jahre und über dreißigtausend Arbeitsstunden lang geplant und gebaut. Traditionsreiche Handwerkskunst verband sich mit modernster elektronischer Technik. Montiert wurde meist in der Nacht, dann, wenn der allabendliche Betrieb an der Einsatzstätte des Gerätes ruhte.
Und nun steht die schönste und modernste Konzertorgel der Welt im Großen Saal des Wiener Musikvereines. Intendant Thomas Angyan bewährte sich als Dirigent eines wirtschaftlichen und kulturellen Unterfangens höchster Komplexität. Die Gesellschaft der Musikfreunde, die Orgelkommission, das Vorarlberger Traditionsunternehmen Rieger: alle haben Grund zu berechtigtem Stolz. Das Werk rühmt seine Meister gerade rechtzeitig vor dem zweihundertjährigen Jubiläum des Musentempels.
Wohl noch nie zuvor stand mir der Kontrast zwischen den kurzfristigen Schein-Gewinnen mancher Vertreter des „Kasinokapitalismus“ und wirklicher Wertschöpfung so klar vor Augen wie beim Anblick der neuen Musikvereinsorgel, in der sich das Beste an menschlicher Voraussicht, Erfahrung, Tradition, Innovationskraft und Management-Künsten vereinigt.
Ich wünschte mir, ihre Klänge würden auch all jenen ins Gewissen dringen, die uns immer noch glauben machen wollen, bloße Geldschöpfung ließe sich gleichfalls in Wertschöpfung umdeuten – nur um daran Bonus-Ansprüche zu knüpfen, die für Einzelne die Summe der Jahres-Arbeitseinkommen aller am Bau dieser Orgel Mitwirkenden locker übersteigen.
Mit diesen und sonstigen Auswüchsen einer dysfunktionalen Finanzmarkt-Ökonomie befasst sich seit kurzem an der London School of Economics ein eigenes Institut. Vielleicht findet man dort heraus, wie sich das globale Bankensystem so umgestalten lässt, dass es seine Hauptaufgabe wieder in Beiträgen zu echter Wertschöpfung sieht. Als Inspirationsquelle für derartige Studien eignet sich der Besuch eines Orgelkonzertes im Musikverein ganz hervorragend.
Die Kosten des neuen Instrumentes von fast zwei Millionen Euro wurden übrigens zu einem Drittel durch die Besucher des Musikvereins aufgebracht. Zwei Drittel jedoch steuerte ein Mäzen bei, der sich am Abend der Einweihung und des Eröffnungskonzertes bescheiden im Hintergrund hielt: Fondsmanager Peter Pühringer, Besitzer des Palais Coburg, Sponsor der Probebühne des Theaters in der Josefstadt und vielleicht auch des künftigen Konzertsaales der Wiener Sängerknaben. Personen wie er repräsentieren die freundliche Seite der janusköpfigen Geldwirtschaft.