die furche - 55

Das Staunen verlernt

 

Wir wundern uns über so Vieles – aber oft hat es den Anschein, als hätten wir das Staunen verlernt. Eine der seltenen Ausnahmen von dieser Regel war gleich zu Beginn dieses Jahres der frühe Vormittag des 4..Jänner, als in großen Teilen Österreichs eine partielle Sonnenfinsternis zu beobachten war. In Wien waren die Wetterverhältnisse ideal und ich nahm mir die Zeit, in einem nahegelegenen Park die Wirkung des Kernschattens des Mondes auf das Sonnenlicht zu erleben.

 

Das Erstaunliche am prompt eintreffenden, ehrfürchtigen Erstaunen: es bezieht sich in diesem Fall auf das Vorhersehbarste aller Ereignisse. Denn nichts ist so sicher wie der Lauf der Gestirne. Wissen wir doch schon heute, dass uns die nächste partielle Sonnenfinsternis erst wieder am 20.März 2015 erwartet. Eine volle Verdunkelung gibt es erst wieder am 3.September 2081 zu bewundern.

 

An diesem schönen Wintertag fiel mir auf, wie nahe der Blick auf ein Natur-Wunder an der Einsicht in die wundersame Schöpfung liegt. Im Zustand des Staunens schienen mir die wissenschaftlich erwiesenen Aussagen darüber nur mehr die sichtbare Oberfläche einer tieferen Wirklichkeit zu sein. Wie anders könnten wir uns mit jener gerade bei einer Sonnenfinsternis so augenscheinlichen Gegensätzlichkeit zurechtfinden, dass sich einerseits die Ausdehnung des Universums mit seinen hundert Milliarden Galaxien ständig beschleunigt und andererseits in mitten dieser explosiven Expansion Verhältnisse von einer Stabilität herrschen, die uns den Zeitpunkt aller Sonnenfinsternisse in den kommenden Millennien auf die Minute genau vorausberechnen lassen. Wenn es den Schöpfergott gibt, müsste es ihm ein Vergnügen bereiten, uns mit diesem unauflösbaren Welträtsel zu beschäftigen.

 

Natürlich fällt einem da – gewissermaßen zur Ausnüchterung – Heinrich Heine ein, der jenem Fräulein, das seufzend und gerührt der untergehenden Sonne nachblickte, ironisch zurief: „Sein Sie munter, das ist ein altes Stück: hier vorne geht sie unter und kehret von hinten zurück.“ Da hat er natürlich recht, sogar wenn es um Sonnenfinsternisse geht. Die wunderbarsten Schöpfungsereignisse stellen sich einfach dar, und das Erstaunliche ist: wir können sie uns zum allergrößten Teil sogar erklären.

 

Schon Sir Isaac Newton, der geniale Ergründer von Naturgesetzen hinter so vielen vermeintlichen Naturgeheimnissen, formulierte den Kontrast zwischen diesem unserem Vermögen und unserer Unberechenbarkeit: „I can calculate the movement of the stars, but not the madness of man“. Nicht zufällig fiel dieses Zitat bei einer Tagung über die Finanzmarktkrise. Es stellt einen Bezug zu den diversen Verhaltensauffälligkeiten her, die uns auch im neuen Jahr beschäftigen werden und liefert zugleich einen Erklärungsansatz für die vielen partiellen Finsternisse vor der Sonne der Aufklärung, verursacht durch orientierungslose Trabanten in den Systemen der Finanzwelt, der Politik, der Medien oder auch der Künste.

 

Wir können uns darüber nur wundern. Das Staunen aber heben wir uns für die wirklichen Wunder auf.

 

 

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