Die fatale Dynamik der Finanzmarktkrise stellt uns vor immer neue, brisante Situationen. Wir beschreiten eine ökonomische terra incognita, in der die vertrauten Landkarten keine Orientierung mehr geben.
Noch um die Jahreswende herrschte die einhellige Überzeugung, es bedürfe weiterer Impulse durch staatliche Investitionsprogramme, bevor der erhoffte Aufschwung selbsttragend wird. Kurz darauf wurde das griechische Haushaltsproblem akut. Seither ist klar, dass zusätzliche Verschuldung keine Option mehr ist.
Mittlerweile hat eine ganze Reihe europäischer Staaten vergleichbare Probleme – und zwar nicht nur jene im Süden sondern auch ein Land wie Großbritannien, dessen Netto-Neuverschuldung heuer sogar etwas größer ausfallen wird als jene Griechenlands. Den Briten steht allerdings der Fluchtweg über eine Abwertung ihrer Währung offen – eine Hintertüre, die Griechenland verbaut ist.
Nicht wenige der Rezepte zur Bekämpfung des Problems sind pure Illusion. Am beliebtesten ist die Mär, durch gezieltes Zulassen einer etwas höheren Inflation – beispielsweise von 4 statt wie bisher 2 Prozent – könnte man Staatsschulden früher loswerden. Solche Denkmodelle sind Ausdruck einer von der Wirklichkeit längst überholten ökonomischen Allmachts-Phantasie.
Bei schwachem Wachstum geht die Bedrohung nicht von einer klassischen Preisinflation aus. Viel gefährlicher ist die Schuldeninflation als direkte und indirekte Folge der Finanzmarktkrise. Bei sinkenden Steuereinnahmen und höheren Sozialkosten wird sie durch rigorose Sparprogramme noch verschärft. Die richtige Dosierung der budgetären Bremswirkung ist deshalb eine Aufgabe im höchsten Schwierigkeitsgrad: eine Vollbremsung wäre mit den gleichen Verletzungsgefahren verbunden wie eine weitere Beschleunigung der Schuldendynamik.
Dass Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel in dieser Situation mutig gegen die Europäisierung nationaler Schuldenprobleme kämpft, werden ihr auch jene noch danken, die sie jetzt als Bremserin zu isolieren versuchen. Ihr Bestehen auf Einbeziehung des Internationalen Währungsfonds ist richtig. Die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents trägt heute schon 27% aller EU-Kosten.
Erstaunlich, dass gerade in dieser heiklen Situation Frankreichs EU-Kommissarin Lagarde Deutschland als Exportweltmeister für die Entstehung wirtschaftlicher Ungleichgewichte verantwortlich machte. Letztlich hat sie damit Merkels pragmatische Position verfestigt.
Der Wettbewerb zwischen unterschiedlich produktiven Wirtschaftsregionen macht Europa reicher und nicht ärmer, das kompetitive Handeln in einem offenen Binnenmarkt fördert die Wertschöpfung aller. Eine Wirtschaftsregierung, die das verfehlte Ziel einer Nivellierung verfolgt, würde die Entwicklung zu einer europäischen Verschuldungsunion weitertreiben und wäre daher schon im Ansatz falsch.
Solange wir über keine verlässlichen Navigationssysteme durchs finanzpolitische Neuland verfügen, tun wir deshalb gut daran, uns eigenständig am Kompass der Überschaubarkeit und Leistbarkeit zu orientieren. download