Um ausreichendes Interesse für ein sprödes Thema zu wecken, schlug ich im Herbst letzten Jahres vor, den nächsten OPEN-MINDS-Diskussionsabend an der Wirtschaftsuniversität mit der provokativen Frage zu übertiteln: „Ist Europa noch zu retten?“. Von einer Griechenland-Krise war damals noch keine Rede und man durfte noch hoffen, dass die neue Kommission, auf die wir wegen der Zitterpartie um den Lissabon-Vertrag so lange gewartet hatten, frischen Schwung in die verfahrene EU-Agenda bringen würde.
Als ich dann Mitte letzter Woche den vielen, überwiegend studentischen Teilnehmern als Diskussionsleiter gegenübersaß, befiel mich ein schlechtes Gewissen darüber, mit dem dramatischen Bild von der „Rettung“ so dick aufgetragen zu haben. Denn in nur wenigen Monaten war aus dem rhetorischen Fragezeichen eine ernsthafte Sorge um das künftige Schicksal der Union geworden. Und es liegt mir fern, in so wichtigen Angelegenheiten mit Entsetzen Scherz zu treiben.
Franz Fischler, der erfahrenste unter den österreichischen EU-Politikern hielt das Einleitungsreferat. Er ließ keinen Zweifel daran, dass der heutige Stand der europäischen Einigung für absehbare Zeit das absolute Maximum darstellt – was nichts weniger bedeutet als das Ende der Utopie vom Bundesstaat. Gerade die neuen Mitgliedsländer mit ihrer noch jungen Eigenständigkeit seien gegen jede Machterweiterung Brüssels. Auch in der Erweiterungsfrage sei das Ziel nach wir vor unbestimmt, die Perspektive für benachbarte Hoffnungsgebiete unklar – ganz abgesehen vom Sonderthema Türkei.
Es verunsichert jedoch zusehends, dass die Finalität beider Achsen der europäischen Entwicklungsdynamik – jene der Vertiefung und jene der Erweiterung – unbestimmt bleiben muss. Der Schwung der Gründungs- und Erweiterungsjahre war von dieser Unbestimmtheit beflügelt – heute hingegen bremst sie den europäischen Fortschritt. Wir brauchen wohl eine neue Zieldefinition europäischer Politik – diesseits der Utopie.
Alle wirklich relevanten Wahlen werden noch immer auf nationaler Ebene geschlagen – selbst die Wahl zum Europaparlament ist meist nicht viel mehr als das Austragungsfeld parteilicher Konkurrenz ohne ernsthaften Einbezug europäischer Themen. Wie werden wir es da bei fehlenden Wachstumsdividenden schaffen, die Faszination für die europäische Sache zu erneuern? Die Barroso-Agenda 2020, mit der das Scheitern der Agenda 2010 rasch verdrängt werden soll, ist dazu am wenigsten geeignet.
Alte EU-Baumeister wie Jacques Delors konnten noch mit dem Bild vom europäischen Fahrrad vertrösten, das in Schwung bleiben muss, wenn es nicht umfallen soll. Heute beruhigt das niemand mehr. Denn solange die Richtung nicht klar ist, steigt man besser vom Fahrrad ab und orientiert sich neu.
Es ist Zeit für eine ehrliche, nüchterne Bestandsaufnahme. Wo wollen wir wirklich hin, wie viel Europa ist machbar und wie kann das Mögliche professionell umgesetzt werden. Das wäre glaubwürdiger als das Spiel in einer längst überholten Inszenierung.