Früher hieß es einmal: Die Not lernt beten. Wenn nun Finanzmanager ihre Stoßgebete an den Staat richten, muss die Not schon sehr groß sein. Tatsächlich erweisen sich in der aktuellen Bankenkrise auch bisher unumstößliche Dogmen als brüchig. Die teuren Neubauten der Finanzmarkt-Architekten sind mit einem Mal einsturzgefährdet.
Um den Zusammenbruch zu vermeiden, haben die Notenbanken und Finanzminister professionell und beherzt einen Notfallsplan in Szene gesetzt. Liquiditätshilfe, Anleihengarantien und direkte Staatsbeteiligungen sollen sicherstellen, dass die Zwischenbanken-Finanzierungen wieder in Schwung kommen. Das vom Bankensystem verspielte Vertrauen wird weltweit durch das Vertrauen in Staaten ersetzt. Diese gehen damit an die Grenzen ihrer budgetären Belastbarkeit.
Von Alexander Kluge, dem deutschen Autor und Medienkünstler, stammt ein Filmtitel aus dem 68-er Jahr: „Die Artisten unter der Zirkuskuppel – ratlos“. Dieses anschauliche Bild blieb bei mir haften, weil ich als Kind begeisterter Zirkusbesucher war. Die Griffsicherheit der Seil- und Trapezkünstler hat mich immer beeindruckt. Ab und zu – nie wusste man, ob das ein die Spannung ins beinahe Unerträgliche steigerndes Kalkül war – fielen sie in das Gott sei Dank vorsorglich gespannte Auffangnetz.
Mitten im Fallen, aber gerade noch rechtzeitig, wurde nun den Finanzartisten ein solches Netz vom Staat gespannt. Dabei hatten sie immer beruhigend versichert, nur kalkulierbare Risiken einzugehen. Die Aufsichtsbehörden waren ehrgeizig bemüht, das Finanzsystem mit ihren strengen Regulativen krisenfester zu machen. Die Wissenschaftler lieferten den theoretischen Background für die Welt der perfekten Risikostreuung. Und die Rating-Agenturen ließen sich für das Verteilen von Haltungsnoten teuer bezahlen.
Ein zweifellos kluger Pragmatiker meinte kürzlich, man möge während des Löschens eines Großbrandes nicht über die Fehlerhaftigkeit der Brandschutzverordnungen diskutieren. Dem ist natürlich nicht zu widersprechen. Wenn aber das Finanzmarktfeuer gelöscht ist, werden wir nicht darum herum können, über eine grundlegend neue, diesmal wesentlich solidere Statik für das globale Finanzmarkt-Gebäude nachzudenken.
Die entscheidenden Stichworte dazu: mehr Transparenz bei allen außerbilanziellen Geschäften der Banken – von riskanten Haftungsprodukten bis zu den Sondergesellschaften auf Steuerinseln. Bilanzierungsregeln, die sich nicht an zweifelhaften Kapitalmarkt-Bewertungen, sondern an den Werten der Realwirtschaft orientieren. Ein Kontrollsystem, das nicht mitten in der Krise auf so fatale Weise prozyklisch wirkt wie das pompös scheiternde Regelwerk von „Basel II“. Eine strenge Kontrolle der Rating-Agenturen, deren Fehleinschätzungen die Abwärtsspirale mit ausgelöst haben.
Und nicht zuletzt: Finanzmanager, die bei ihren Hochseilakten unter der Zirkuskuppel weniger abgehoben agieren als in den vergangenen Jahren. Gerade in der Krise braucht der beste Artist ein Sicherheitsnetz der Akzeptanz durch Politik und Gesellschaft.
Oktober 2008