Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste Club of Rome / Chapter Österreich Tagung „DIE NEUE AUFKLÄRUNG“, Salzburg, 22. November 2019
Aufklärung und industrielle Revolution
„Die Aufklärung hat funktioniert – möglicherweise handelt es sich um die größte kaum erzählte Geschichte aller Zeiten. Weil aber dieser Triumph so selten besungen wird, erfahren auch die ihr zugrunde liegenden Ideale der Vernunft, der Wissenschaft und des Humanismus kaum Beachtung….Doch wenn man sie angemessen wertschätzt, sind die Ideale der Aufklärung in Wahrheit mitreißend und inspirierend ..“1 So Steven Pinker im Vorwort zu seiner Streitschrift „Aufklärung jetzt“.
Ganz im Sinne seines evidenzbasierten Ansatzes stehen im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen zu einer neuen Aufklärung in der Ökonomie ordnungspolitische Fragen und die damit zusammenhängende Darstellung konkreter, empirisch unterlegter Entwicklungen mit Blick auf Lebensqualität, Wohlstand, Fortkommen und Nachhaltigkeit.
Da aber Ökonomie immer Teil einer Politischen Ökonomie ist, und diese wiederum Teil der Philosophie und somit einer bestimmten „Welt-Anschauung“, soll die geisteswissenschaftliche und gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte der Aufklärung ebenso wenig ausgeklammert bleiben wie damit verbundene Grundsatzfragen nach der conditio humana.
Lassen Sie mich deshalb gleich eingangs auf Immanuel Kant Bezug nehmen, der in bis heute unübertroffener Sinn- und Sprachdeutlichkeit festgehalten hat, was unter Aufklärung zu verstehen ist: nämlich der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Wobei er Unmündigkeit als das Unvermögen definiert, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.
Obwohl Kant diese Ermutigung und zugleich Ermächtigung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, zunächst „vorzüglich auf Religionssachen“ bezieht, lässt sie sich unschwer auch auf Fragen der Selbständigkeit und des selbstbestimmten Handelns im Sozialen und Ökonomischen erweitern. Daraus wiederum folgt unmittelbar ein politisches Postulat nach Befreiung aus nicht-selbstverschuldeter Unmündigkeit. Und schon stehen wir mitten im sozialrevolutionären, emanzipatorischen Projekt des Aufbruchs in eine bis dahin von Glaubens- und Herrschaftswissen verbarrikadierte, von nun an offene Zukunft.
Die Aufklärung versteht sich als Überwinderin der Absolutismus und somit Befreiung von derjenigen politischen Herrschaft, die durch eine künstlich aufrechterhaltene Unmündigkeit der Beherrschten stabilisiert wird.
Dass die Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts sozial und ökonomisch wirksam werden konnte, war wohl ganz maßgeblich auch den zuvor in der Renaissance erstrittenen Freiheiten der Wissenschaft und des Forschens zu verdanken. Ohne sie hätte es jene technologischen Durchbrüche – von der Dampfmaschine bis zur Webmaschine und dem Eisenbahnwesen – nicht gegeben, die parallel zur gesellschaftspolitischen Umwälzung auch innovatorische Schübe nie gekannten Ausmaßes ermöglichten.
Die freiwillig gewährten oder in politischen Auseinandersetzungen errungenen Freiheits- und Eigentumsrechte waren jedenfalls konstitutiv für zuvor nicht gegebene wirtschaftliche und soziale Entfaltungsmöglichkeiten in zunehmend demokratischen Gesellschaften. Individualisierung, die Chance auf standesunabhängigen wirtschaftlichen Aufstieg und erweiterte Spielräume politischer Mündigkeit ermöglichten erst die Begründung moderner Industriegesellschaften.
Zunächst in England, dann in Frankreich und schließlich im übrigen Kontinentaleuropa entstanden auf dieser Grundlage völlig neue „Wertschöpfungsketten“ und Erwerbsbiographien.
An die Anfänge dieser Entwicklungen in der Donaumonarchie erinnerte in den vergangenen Monaten eine österreichische Medien-Kampagne. Im Mittelpunkt des Werbetrailers stand dabei folgende Aussage:
„Es hat sich ein Verein gebildet. Eine Gesellschaft, die durch die sicherste Verwendung ihr Kapital vermehrt. Eine Gesellschaft, die allen ….die Mittel an die Hand gibt, ein kleines Kapital zurückzulegen, um es in späteren Tagen.. zur Erreichung irgendeines löblichen Zweckes zu verwenden. …Eine Gesellschaft, die kein Alter, kein Geschlecht, keinen Stand, keine Nation von den Vorteilen ausschließt, die sie jedem Einlegenden bietet.“
Diese Leitsätze stammen aus der Gründungsurkunde der ERSTEN Österreichischen Spar-Casse von 1819, deren Gründung auf die Initiative des Pfarrers der Kirche St. Leopold in der Leopoldstadt, dem damals sehr armen 2. Wiener Gemeindebezirk, zurückgeht. Er wurde dabei von dem Juristen und Unternehmer Ignaz Ritter von Schönfeld sowie weiteren, der Idee gegenüber aufgeschlossenen Aristokraten unterstützt.
Wenn heute in Weltgegenden, die noch ganz am Beginn ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stehen, Mikrokredit-Banken tätig werden oder mit Hilfe der Digitalisierung und mobiler Kommunikation die Möglichkeit zur privaten Kontoführung auch in entlegensten Gegenden eröffnet wird, haben wir es mit dem Grunde nach vergleichbaren Situationen zu tun.
Die Initiative im Wien von damals fand in einem sozialen und geistigen Umfeld statt, das mitten im Metternich´schen Obrigkeitsstaat bereits beeinflusst war von den seit dem Josephinismus gedeihenden, tragenden Gedanken der Aufklärung und der damit einhergehenden bürgerlichen Emanzipation. Die Herstellung früher Formen von Chancengleichheit ging mit einem sukzessiven Abschmelzen feudaler und ständischer Privilegien einher. Den Rechtsinstituten der Gewerbefreiheit und Freiheit der Berufswahl wurde schrittweise jene Geltung verschafft, die dann zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrer festen Verankerung im System des Rechtsstaates führte.
Auch hier drängen sich Parallelen zu heute auf. Denn die Geschehnisse in nicht-demokratischen Staaten, die von korrupten Regimen beherrscht werden und/oder durch extrem ungleiche Zugänglichkeit von Ressourcen und bebaubarem Land charakterisiert sind, bringen den augenscheinlichen Beleg dafür, dass Wirtschaften keineswegs voraussetzungslos funktioniert.
Erst die Herrschaft des Rechts („Rule of Law“) und die geübte Praxis anerkannter ordnungspolitischer Spielregeln bieten nun einmal die Voraussetzungen für breiten Wohlstand. Es spricht deshalb alles dafür, den in der Aufklärung erkämpften Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Freiräumen für eigenverantwortliches Wirtschaften nach Möglichkeit überall dort zum Durchbruch zu verhelfen, wo deren schmerzliches Fehlen bis heute keine Auswege aus der Armutsfalle offen lässt.
Erfolge von zwei Jahrhunderten
Gute zwei Jahrhunderte nach Beginn der industriellen Revolution können sich in den Ländern des Westens die Erfolge eines auf individuellen Eigentums- und Entfaltungsrechten basierenden Wirtschaftssystems jedenfalls sehen lassen.
Die Vision von Adam Smith, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft aus einzelwirtschaftlichen Initiativen auf freien Märkten so viel Wertschöpfung hervorzubringen, dass sich daraus „mit unsichtbarer Hand“ auch Gemeinwohlziele erfüllen lassen, ist in den hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten in hohem Masse Wirklichkeit geworden. Ja mehr noch: wie sich an zahllosen, qualitativen Indikatoren der Lebensbedingungen zumindest in den entwickelten Demokratien zeigen lässt, wurden die in sie gesteckten Erwartungen sogar weit übertroffen.
Die Aufklärung hätte demnach ihre Schuldigkeit getan und wir könnten die Frage nach der Notwendigkeit einer neuen Aufklärung in der Ökonomie auch gleich wieder ad acta legen.
Doch kein „Ende der Geschichte“
Doch der Anschein eines „Endes der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und dem Aufbruch in eine diesmal wohl irreversible Entwicklungsstufe der Globalisierung diagnostiziert hatte, erweist sich als trügerisch. Denn mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz durch die kommunistischen Planwirtschaften entfiel auch der bis dahin bestehende Ansporn, sozial-marktwirtschaftliche Systeme zu forcieren. Stattdessen begann sich Europa im Zuge der Osterweiterung und der Schaffung des Euro allzu einseitig am marktfundamentalistisch ausgerichteten US-amerikanischen Modell zu orientieren. Die aus Mitteleuropa zugewachsenen neuen Mitgliedsländer wollten ihrerseits von unseren ausgebauten Sozialstaatsmodellen nichts wissen. Es dominierte das Diktum des Vaclav Klaus von der „Marktwirtschaft ohne Vorzeichen“.
Drei Jahrzehnte später zeigen sich wesentlich nüchternere, höchst fragmentierte Bilder eines Geschehens, das sich – einer Beobachtung Peter Sloterdijks folgend – partout nicht mehr in eine globale Zentralperspektive fügen will. Auch innereuropäisch ist das lange imaginierte Schlussfoto einer „Ever converging union“ – nicht nur Brexit-bedingt – bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Anstelle von Konvergenz nehmen wir gewissermaßen ein Wimmelbild der Welt wahr, das sich aus höchst unterschiedlichen Szenen und Entwicklungsstufen zusammenfügt, die noch dazu einer disruptiven Veränderungsdynamik unterliegen.
So verlockend es war, die Welt-Ökonomie nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Planwirtschaften über einen einzigen System-Leisten zu schlagen, so wenig entspricht diese Wunschvorstellung der heutigen Realität. Die machtvolle Herausbildung leistungsstarker Ökonomien in Einparteien-Diktaturen wie jener Chinas konfrontiert uns mit radikal neuen ordnungspolitischen Konstrukten, die historisch ohne Vorbild und bis heute nicht wirklich einordenbar sind. Die das letzte Jahrhundert beherrschende Dichotomie von Markt- und Planwirtschaft erweist sich demnach als überholt, führte aber keineswegs zu einem demokratisch-marktwirtschaftlichen All-in-One-Modell.
Es war im Rückblick gesehen von großem Nachteil, dass der Weg in die Globalisierung in der zunächst vorherrschenden Euphorie weitgehend unkritisch eingeschlagen wurde, ohne ernsthaftes Bemühen um die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen. Das „Business as usual“ einer naiven Marktgläubigkeit im Sinn eines sich selbst entlang von Marktgleichgewichten aussteuernden Systems perpetuierte eine modellhaft-mechanistische Sichtweise der Ökonomie, die keine „außerökonomischen“ Erklärung mehr zulassen wollte. Die sozial-marktwirtschaftlichen Modellen verpflichteten kontinental- und nordeuropäischen Staaten ließen diese Entwicklung widerspruchslos zu.
Systemische Fehlentwicklung in der Finanzwirtschaft
Exemplarisch dafür stehen die Entwicklungen in der Finanzwirtschaft, wo im Überschwang einer zum Dogma erhobenen „efficient market theory“ systemisch fehlerhafte Weichenstellungen vorgenommen wurden, die direkt in die Krise von 2008 geführt haben.
Nur drei dieser krisenursächlichen Weichenstellungen seien exemplarisch genannt:
die Aufgabe von am Vorsichtsprinzip orientierten Bilanzierungsmethoden zugunsten marktwert-orientierter, am vermeintlichen Shareholder-Value-Nutzen ausgerichteten Bilanzen bei börsennotierten Unternehmen;
die fatale Weichenstellung des Bankenregulativs von Basel II in Richtung einer bis heute vorherrschenden, dramatischen Unterkapitalisierung von systemrelevanten Großbanken und schließlich
die verfehlte Bonus-Incentivierung von Bankmanagern am sogenannten „Return on Equity“, die dieser Unterkapitalisierung erst recht Vorschub leistet
Als dann im September 2008 die Pleite der Lehman-Bank zum Auslöser einer weltweiten Finanzkrise wurde, konnte nur das professionelle Krisenmanagement der Notenbanken und beherztes Agieren der mit Bankenrettungen und Konjunkturprogrammen zu Hilfe eilenden Regierungen die Entstehung einer Welt-Wirtschaftskrise wie in den Dreißigerjahren verhindern.
Bald darauf folgte in Europa eine von der Finanzkrise maßgeblich mitverursachte Finanzschulden- und Eurokrise, die zahlreiche Not- und Umbaumaßnahmen im europäischen Institutionengefüge – von provisorischen hin zu permanenten Rettungsschirmen – nach sich zog und die Europäische Zentralbank zu zuvor nie gekannten „unkonventionellen“ Maßnahmen zwang.
Anzeichen für eine politische Vertrauenskrise
Die Wahrnehmung, dass Europa trotz eines durchaus erfolgreichen Krisenmanagements noch in keiner „neuen Normalität“ angekommen ist, mündete schließlich in eine politische Vertrauenskrise, die sich in den Ergebnissen der nachfolgenden Wahlen in zahlreichen Mitgliedsländern der Europäischen Union widerspiegelte. Es gibt dafür – abseits der 2015 noch verschärfend hinzugekommenen Migrationskrise – eine Reihe benennbarer Gründe:
durch die Maßnahmen der nach wie vor im Krisenmodus agierenden Notenbanken entstehen akute Verteilungsprobleme,
die Bedürfnisse der Realwirtschaft kommen angesichts der Dominanz finanzwirtschaftlicher Interessen zu kurz,
die Arbeits- und Lebenschancen von Teilen des Mittelstandes erscheinen in Folge unerwarteter Nebenwirkungen der „Binnenglobalisierung“ gefährdet
die Zukunftschancen der nächsten Generation werden durch die Klimafolgen ungezügelten Wachstums bedroht
Die greifbare Orientierungslosigkeit der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in derart grundlegenden ordnungspolitischen Fragen musste schließlich dazu führen, dass unser auf den Errungenschaften der „ersten“ Aufklärung aufbauendes Wirtschaftssystem trotz all seiner unbestreitbaren Erfolge in eine manifeste Legitimationskrise geraten ist.
Die Befürworter eines in kluge Rahmenbedingungen eingebetteten Marktsystems, das für Innovation ebenso steht wie für Inklusion, lassen in dieser kritischen Situation überzeugende innersystemische Reformkonzepte weitgehend vermissen. Sie verharren meist im überkommenen Vokabular aus der Gründerzeit der Sozialen Marktwirtschaft. Bei ungeduldigen Kritikern treffen sie damit bestenfalls auf wohlwollende Ignoranz, schlimmeren Falls auf Aggression angesichts des Gefühls, nicht wirklich verstanden zu werden.
Friedrich August Hayek hat in seiner „Verfassung der Freiheit“ wohl zu Recht festgehalten: „Wenn alte Wahrheiten ihren Einfluss auf das Denken der Menschen behalten sollten, müssen sie von Zeit zu Zeit in der Sprache und den Begriffen der nachfolgenden Generationen neue formuliert werden.“
Schon deshalb ist zur Entwicklung neuer ordnungspolitischer Entwürfe eine „neue Aufklärung“ gefordert, verbunden mit einem unvoreingenommenen Blick auf die neuen Wirklichkeiten, auf Erreichtes ebenso wie auf manifeste Defizite.
Neue Aufklärung in der „vollen Welt“
Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman vertreten in ihrem Buch über den jüngsten Bericht des „Club of Rome“ eben dieses Postulat einer „neuen Aufklärung“ als Voraussetzung für durchgreifende Reformen des globalen Wirtschaftens.
Die Begründung der beiden Autoren erscheint plausibel: der erste, säkuläre Erfolgsschub der Aufklärung seit Beginn der industriellen Revolution habe in einer gewissermaßen „leeren“ Welt stattgefunden. Die damalige Weltbevölkerung umfasste nicht mehr als etwa eine Milliarde Menschen. In der „vollen“ Welt von heute hingegen leben bereits 7,6 Milliarden Menschen.
Dies vor allem zwingt uns zu einem Denken, das weit über die europäische Perspektive hinausreicht, bedeutet doch globales Wachstum heute nicht mehr automatisch auch besseres Leben, sondern Bedrohung unserer Lebensgrundlagen. Mit diesem entscheidenden Unterschied zwischen der „leeren“ Welt der ersten Aufklärung und der „vollen Welt“ von heute ändert sich auch die Bewertung von Technologien, Regeln und Anreizen, Gewohnheiten und Institutionen. Die sämtlich in der „leeren Welt“ verhafteten Modelle der Klassik und des Keynesianismus können deshalb nicht mehr alleine wegweisend sein.
Worum es in der Neuen Aufklärung geht, ist demnach nichts Geringeres, als ein neues Narrativ zu dem zentralen Anspruch eines wohl geordneten Wirtschaftssystems zu entwickeln. Das Gelingen dieser ordnungspolitischen Übung setzt nicht nur Werte-Orientierung voraus, sondern auch eine entsprechend nüchterne Analyse der Ausgangslage.
Diese führt zu allererst zur Einsicht, dass die traditionellen Reformkonzepte hochentwickelter Marktwirtschaften an ihrer nationalstaatlichen Begrenzung zu scheitern drohen. Schon deshalb lassen sich realistische Perspektiven erst auf Grundlage einer umfassenden Analyse der durch die Globalisierung ausgelösten, fundamentalen Veränderungen entwickeln.
Unerwünschte Nebenwirkungen der Globalisierung
Dass es in den letzten Jahren zu Rissen im internationalen Konsens über die Segnungen der Globalisierung gekommen ist, hat nämlich sehr viel damit zu tun, dass die neue internationale Arbeitsteilung ihre Dynamik in einem weitgehend regellosen Raum entwickelt. Oder besser: in einem Raum, dessen einzig wirklich durchsetzbare Regel jene des Diskriminierungsverbotes von Mitbewerbern durch einzelstaatliche Sonderbestimmungen – etwa auch umweltpolitischer Natur – ist.
Mitbewerber aus Ländern mit völlig unterschiedlichen Startvoraussetzungen kämpfen so in der globalen Kostenkonkurrenz mit höchst ungleichen Waffen. Sozial und ökologisch verantwortete Formen der Produktion geraten dabei unter Druck. Dazu kommt schließlich der mit der Globalisierung beschleunigte Wandel durch disruptive Digitalisierungs-Technologien und Plattform-Ökonomien.
Die drei G´s der Globalisierung – Grenzenlosigkeit, Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit – bringen unauflösliche Vernetzungen und arbeitsteilige Abhängigkeiten zwischen den traditionellen und den neuen wirtschaftlichen Kraftzonen der Welt mit sich. Zugleich sind sie ein Motor von Innovation und erhöhter Produktivität. Aber die Erfolge dieser globalen Arbeitsteilung kommen trotz steigenden Massenwohlstands in vielen der neuen Marktwirtschaften zu wenigen Menschen zugute.
Die „America First“-Politik des amtierenden US-Präsidenten ist Ausdruck davon. Sie spiegelt, so unerfreulich sie uns entgegentritt, letztlich doch auch wieder, dass bei den so genannten „kleinen Leuten“ Folgewirkungen der globalen Marktöffnung spürbar wurden, die man in der ersten Euphorie übersehen hat oder übersehen wollte. Vergleichbares lässt sich über den Europäischen Binnenmarkt und die Begleiterscheinungen der damit verbundenen „Binnenglobalisierung“ sagen.
Dazu kommt eine mittlerweile manifeste Krise des Multilateralismus, die bewusst macht, dass nach dem faktischen Entfall der amerikanischen Führungsrolle die darauf abgestellten Kooperations-Strukturen auseinander zu brechen drohen.
Bestandsaufnahme und sozio-kulturelle Einordnung
Wenn eine neue Aufklärung in der Ökonomie dazu beitragen soll, aus dieser Sackgasse wieder herauszufinden, sollte an ihrem Beginn eine Bestandsaufnahme stehen:
Was wurde erreicht und wo herrschen Defizite vor?
An welchen Maßstäben sollen Erfolge überhaupt gemessen werden?
Wie sieht das den jeweiligen Gesellschaften angemessene politisch-ökonomische Zielbündel aus, das es zu erreichen gilt?
Auch bedarf die Definition des Zielbündels, an dessen Erreichung Erfolge gemessen werden können, in einer globalisierten Wirtschaftswelt einer plausiblen Einordnung in den jeweiligen sozio-kulturellen Kontext:
Sind die Erfolgsvoraussetzungen fortgeschrittener Ökonomien vergleichbar und auf andere Kulturen übertragbar?
Lässt sich der Universalismus des grundlegenden Werte-Kodex der Aufklärung in einer globalisierten Ökonomie aufrechterhalten?
Wo liegen bei der Suche nach der Neuordnung und Weiterentwicklung von Wirtschaftssystemen die Übergänge von nationaler zu europäischer und globaler Verantwortung?
Welche Rolle kommt dabei multilateralen Organisationen zu?
Ein auf das technisch und ökonomisch Machbare verkürztes Verständnis von Aufklärung, wie es dem als „neoliberal“ beschriebenen, marktfundamentalistischen Denken entspricht, wäre mit Fragestellungen dieser Art jedenfalls überfordert.
Systemkritik in der Sackgasse
Wie dringend ernsthafte Bemühungen um eine neue Aufklärung in der Ökonomie wären, zeigt eine vielerorts verschärfte, grundsätzliche Kritik an der Marktwirtschaft als solcher ebenso wie die vermehrten Rufe nach dem „ganz Anderen“. Das Spektrum reicht von neomarxistischen Retro-Rezepten über Kommunitarismus, Gemeinwohlökonomie und allerlei Varianten der Post-Wachstumsökonomie bis hin zu radikalliberalen Plädoyers für noch weniger Staat oder das Gegenteil davon.
Ideologien, denen eine freie Wirtschaftsordnung immer schon fremd war, nützen diese Situation für sich und verbünden sich auf der äußeren rechten wie auf der äußeren linken Seite des politischen Spektrums mit den Gegnern eines meist als „Neo-Liberalismus“ bezeichneten Marktfundamentalismus, ohne ihn von den vielen Ausprägungen „verantworteter“ oder eben „Sozialer“ Marktwirtschaft zu unterscheiden.
Es gibt darunter auch Strömungen, die Verschwörungstheorien anhängen, etwa gegen die seinerzeit als Plattform des Nachkriegs-Multilateralismus gegründete „Bilderberg-Konferenz“, deren aktueller Einfluss drastisch überschätzt wird. Nicht selten werden auch Freimaurer und von ihnen beeinflusste Marktfundamentalisten verdächtigt, die Völker der Welt unter das Joch einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu zwängen.
Auch in Teilen der Medien hat sich eine Systemkritik etabliert, die – festgemacht an unbestreitbaren Fehlentwicklungen – marktorientierte Wirtschaftssysteme als Ganze in Frage stellt. Im Mahlstrom dieses „Weltuntergangs-Diskurses“ (Matthias Horx) werden Störungen nicht mehr als Ausnahme von der Normalität wahrgenommen, sondern als Beweis für das Nicht-Funktionieren des Ganzen. Die damit einhergehende Legitimationskrise unseres Wirtschaftssystems ist jedoch schon deshalb gefährlich, weil es mangels fundamentaler Systemalternativen fatal wäre, das Kind mit dem Bade auszuschütten und nach dem ganz Anderen zu rufen.
Denn mit Marktsystemen ist es wohl ähnlich wie mit der Demokratie, von der Churchill bekanntlich überspitzt gesagt hat, sie sei die schlechteste aller Staatsformen, er kenne jedoch keine bessere. So wie es unter den unterschiedlichsten Spielarten von Demokratie zu unterscheiden gilt, welche davon am sinnvollsten erscheint, ist dies auch bei den unterschiedlichen Spielarten von Marktwirtschaft angebracht.
Auf der Suche nach der neuen Sozialen Marktwirtschaft
Umso vordringlicher ist es deshalb gerade für uns Europäer, jenes Modell wiederzuentdecken und für die globalisierte Welt nachzurüsten, dem wir den größten Wohlstand unserer Geschichte verdanken: die inklusive, nachhaltige - oder eben öko-soziale Marktwirtschaft.
Wer jemals versucht hat, diesen Begriff mit amerikanischen Gesprächspartnern zu diskutieren, wird vermutlich festgestellt haben, dass dies schwer bis nahezu unmöglich ist. Definitorisch kommt man einander hier kaum nahe, weil eben unterschiedliche Konzepte dahinter stehen. Aber letztlich kommt es nicht auf Semantik an, sondern auf die inhaltliche Substanz. Es können daher auch andere Begriffe eingesetzt werden – von „reponsible capitalism“ oder – wie Paul Collier das in seinem neuen Buch tut – „Social Capitalism“ bis hin zu den vom Harvard-Ökonomen Dani Rodrik so bezeichneten „Economics of inclusive prosperity“.
Die Kernfrage einer Neuen Aufklärung in der Ökonomie lautet:
Wie kann es gelingen, in einer arbeitsteiligen Ökonomie Wert-Schöpfung im zweifachen Sinn zu schaffen, so nämlich, dass durch einzelwirtschaftliche Aktivitäten eine ausreichende materielle Basis erwirtschaftet wird, auf deren Grundlage zugleich gesellschaftlicher Zusammenhalt und Lebensqualität für möglichst Viele gewährleistet werden kann. Und dies – das sei in Zeiten der Klimapolitik hinzugefügt – auf eine Weise, die im Unterschied zur derzeitigen Praxis auf Nachhaltigkeit hin angelegt ist.
Um dazu ein neues, wieder tragfähiges Narrativ erarbeiten zu können, bedarf es zunächst einer klaren Unterscheidung zwischen den vorherrschenden Wirtschaftsstilen.
Auf der einen Seite jener des angloamerikanischen Raumes einschließlich Kanadas und Australiens: geprägt von einer Geschichte vitaler Kapitalmärkte, Angewiesenheit auf eigene Tüchtigkeit, mit vor allem in den USA äußerst schwach ausgeprägten sozialen Fangnetzen – ein Land, in dem, wie der aktuelle Vorwahlkampf zeigt, bereits als „links“ gilt, wer das für uns Europäer völlig selbstverständliche Recht auf eine allgemeine Krankenversicherung einfordert.
Weiters die erfolgreichen marktliberalen Ökonomien Asiens wie Südkorea oder Singapur.
Dazwischen eine Reihe von Ökonomien, die, obwohl im Grundsatz marktwirtschaftlich ausgerichtet, weitgehend oder sogar ganz ohne Demokratie auszukommen scheinen – von den südamerikanischen Regimen argentinischen Zuschnitts über den Oligarchen-Kapitalismus Russlands und die feudal-marktwirtschaftlichen Systeme des arabischen Raums.
Auf der anderen Seite Kontinental- und Nordeuropa: geprägt durch eine aus vielen nationalen Staatengebilden gewachsene, bankenorientierte Finanzierungskultur, dem Vorsichtsprinzip verpflichtet, seit dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge sozialstaatlich geprägt, mit Verteilungsstrukturen, die wesentlich ausgeglichener sind als jene der USA.
und schließlich der im Modellvergleich eine absolute Sonderstellung einnehmende, kapitalistische Einparteien-Absolutismus Chinas, der historisch ohne jedes Vorbild ist. Mit China ist ein Land auf den Weltmarkt getreten, das heute schon – je nach Messweise – die größte, jedenfalls aber zweitgrößte Ökonomie der Welt darstellt.
Die Herausforderung, zwischen diesen höchst unterschiedlichen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsstilen zu unterscheiden, ist größer als je zuvor. Die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft scheint allerdings vor dem Hintergrund der bis zur Ostöffnung vorherrschenden, simplen Zweiteilung der Welt in Markt- und Planwirtschaften bis heute damit überfordert, sich dieser zentralen Aufgabe zu stellen.
Die messbaren Vorzüge des Europäischen Modells
Die europäischen Wohlfahrtsstaaten liegen nicht zufällig in jenen internationalen Ranglisten ganz vorne, die Volkswirtschaften nicht nur am Bruttosozialprodukt pro Kopf miteinander vergleichen, sondern auch nach qualitativen Kriterien: von der Kindersterblichkeit und Lebenserwartung über Bildungschancen, von der sozialen Kohärenz bis hin zu Wohnmöglichkeiten und vielem anderen.
Der neueste UNO-Report zu den „Sustainable Development Goals“ zeigt hier Österreich erfreulicherweise in einer Zehner-Spitzengruppe mit den skandinavischen Staaten, der Schweiz, Deutschland und Frankreich. Auch im so genannten „World Happiness Report“, der ebenfalls eine Fülle qualitativer Kriterien heranzieht, um Volkswirtschaften miteinander zu vergleichen, liegt Österreich ganz vorn.
In beiden Wohlfahrts-Rankings findet man die USA aus guten Gründen lediglich im oberen Mittelfeld. Der Hauptgrund: sinkende Lebenszufriedenheit bei steigendem Wohlstand. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Senatorin Elizabeth Warren meinte dazu kürzlich pointiert: „Das System funktioniert immer besser und besser für eine immer dünnere und dünnere Schicht.“
Es sollte sich demnach lohnen, das europäische Wirtschaftsmodell im Zeicheneiner „neuen Aufklärung“ unter den Bedingungen der Globalisierung selbstbewusst weiter zu entwickeln, damit es mit Blick auf Wertschöpfung, soziale Sicherheit und ökologische Qualität wieder als eine Sache wahrgenommen wird, die der gemeinsamen Anstrengung wert ist.
Orientierung an gemeinsamen Werten
Allzu oft wird vergessen, dass die so erfolgreiche europäische Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Suche nach einem bewusst eigenständigen Weg zwischen dem gescheiterten Laissez-faire-Liberalismus der Dreißigerjahre und dem Versagen der Planwirtschaften entstanden ist. Niemand hätte in den Entstehungsjahren der Sozialen Marktwirtschaft die politische Kernverantwortung des Staates verleugnet, für die Rahmenbedingungen verantwortlich zu sein, unter denen Wettbewerbswirtschaft sozialverträglich funktioniert.
Dass daraus ein breiter, gesamteuropäischer Konsens über ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gewachsen ist, dem sich bis vor wenigen Jahren parteiübergreifend große Mehrheiten der Bevölkerung anschließen konnten, ist von nicht zu unterschätzendem Wert. Allerdings bedarf die Weiterentwicklung eines derartigen Modells der ständigen Sauerstoffzufuhr durch weiterführende Reform-Konzepte, wenn es nicht zum bloßen Weltkulturerbe verkommen soll. Um dauerhaft erfolgreich zu sein, muss ein Wirtschaftssystem neben der materiellen Wertschöpfung nämlich auch „Sinn machen“ und als gesamtgesellschaftlich wertvoll erlebbar sein.
Fehlt dieses Element, geht der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren. Dann liegen die Grenzen des Wachstums nicht mehr nur in der Limitierung der materiellen Ressourcen, sondern in den Grenzen des Vertrauens in ein allzu einseitig auf Kapitalinteressen fixiertes Bild von Marktwirtschaft. Am Ende besteht die durchaus bereits präsente Gefahr, dass berechtigte Kritik an einzelnen Fehlentwicklungen in fundamentale Kritik an der Marktwirtschaft als solcher kippt.
Weil Europa seine Chancen in der Globalisierung nur mit einem verlässlichen Ordnungsrahmen für verantwortete Marktwirtschaft wahren kann, wäre die Bemühung um eine Neue Aufklärung in der Ökonomie jede Anstrengung wert.
Es geht dabei nicht zuletzt darum die Anteile der Aufklärung an der Ambivalenz des Fortschritts zu reflektieren und – um mit Weizsäcker zu sprechen – Fragen anzusprechen, die in der Bewegung, die sich Aufklärung nennt, jeweils gerade verdrängt worden sind.
Ich hoffe, mit meinem Referat einige Denkanstöße in diese Richtung geliefert zu haben!