Marktwirtschaft - ein Weltmodell?

Soziale Marktwirtschaft - ein Globalisierungskonzept

 

Beitrag für die „Monatshefte“, Oktober 2004

Seit dem Zusammenbruch der zentralistischen Staatswirtschaften befindet sich mehr als eine Milliarde Menschen im ehemaligen Herrschaftsgebiet der Sowjetunion und zahlreichen von ihr beeinflussten Ländern der dritten Welt auf dem Weg in die Marktwirtschaft. Eine nie gekannte Veränderungsdynamik führt zu einer weltweiten Neuverteilung von Wertschöpfung und Wohlstand. Dennoch hat das Ende des Systemdualismus von Markt- und Planwirtschaft keineswegs das von Francis Fukuyama postulierte „Ende der Geschichte“ im Sinne einer weltgeschichtlichen Entscheidung für die dauerhafte Überlegenheit des Marktmodells und die mit ihm verbundenen zivilisatorischen Standards eingeläutet. Nach dem entsetzlichen Fanal von New York zeigt sich vielmehr, dass der Gegensatz zu einem weltweiten Marktmodell nicht mehr in Staatswirtschafts-Ideologien sondern in Anarchie und fundamentalistischem Antimodernismus zu bestehen droht.

Erfolgreich, aber gefährdet: Marktwirtschaft als Weltmodell

Es wird notwendig sein, stärker über die Einsatzbedingungen und politischen Begleitmassnahmen von Marktwirtschaft zu reden, bevor wir sie zum siegreichen Weltmodell erklären dürfen. Von der Bildungspolitik bis zur Rechtspolitik und einer tragfähigen Infrastruktur gibt es nämlich essentiell wichtige Voraussetzungen für funktionierende Wettbewerbswirtschaft, ohne die auch ihr gesellschaftspolitisch wertvolles, emanzipatorisches Potential nicht freigesetzt werden kann. Zur Herstellung dieser Voraussetzungen brauchen Länder, die sich nach lähmenden Jahrzehnten Planwirtschaft oder Jahrhunderten in feudalen Herrschaftssystemen der Marktwirtschaft öffnen, die Hilfe reifer, erfahrener Marktwirtschaften. Ohne solche Hilfe wäre Marktwirtschaft als Weltmodell trotz ihrer Erfolge gefährdet.

Die Erfahrung zeigt, dass Marktwirtschaft und die Teilnahme am internationalen Warenaustausch schon oft – wie in den ehemals verarmten Tigerstaaten Asiens – den ersten Schritt zu Wohlstand für breitere Schichten und damit letztlich auch zur Entwicklung demokratischer Verhältnisse dargestellt hat. In der Globalisierung marktwirtschaftlich organisierten Wettbewerbs könnte daher sogar die Leitidee eines historisch einzigartigen Entwicklungsprogrammes für Länder der ehemaligen Dritten und Vierten Welt gesehen werden. Die Volksrepublik China geht (die demokratiepolitischen Konsequenzen derzeit noch ausklammernd) wohl ebenfalls von dieser Vorstellung aus, wenn sie nach jahrelangen Bemühungen um die vor wenigen Tagen erst zustande gekommene Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO weitere 800 Millionen Menschen in die Marktwirtschaft führt.

Die „unsichtbare Hand“, das von Adam Smith zu Beginn der industriellen Revolution geschaffene Symbol jenes makroökonomischen Zaubertricks, mit dem aus der millionenfachen eigennützigen Aktivität von Bürgern etwas gesamtwirtschaftlich Nützliches entsteht, reicht heute weiter denn je. Darüber hinaus trägt die Revolution der Informationstechnologien die Chancen der Informationsgesellschaft in die entlegensten Weltgegenden. Die Gleichheit der Zugangsmöglichkeiten befreit von traditionalistischen Fesseln und gibt konkrete, persönliche Aufstiegsmöglichkeiten selbst in starren Standesgesellschaften – wie etwa jener Indiens, wo jungen Computerspezialisten der soziale Aufstieg gelingt, weil sie zur neuen „Kaste“ der leistungsbereiten, mobilen Informationsdienstleister gehören.

Globale Marktfreiheit allein ist kein wirtschaftspolitisches Programm

Globale Marktfreiheit allein ist aber trotz dieser offensichtlichen Chancen für bisher benachteiligte Länder kein ausreichendes wirtschaftspolitisches Programm. Länder, die ganz am Beginn der Marktöffnung stehen und noch keinen breiten, mittelständischen Marktsektor haben, können nämlich an der übereilten Konfrontation mit dem Wettbewerb der höchst entwickelten Marktwirtschaften erkranken. Ohne ausreichende zivilgesellschaftliche Grundlagen bauen sie Abhängigkeiten auf und werden zu – langfristig politisch schwer integrierbaren – Wirtschaftskolonien. Carlos Fuentes, der mexikanische Schriftsteller und Politiker, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass weltweiter Freihandel nur dann in die gewünschte Richtung wirkt, wenn seine Regeln die Voraussetzung für eine gemeinsame, gleichrangige Weiterentwicklung von Wirtschaftswachstum, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit schaffen. Wird nur die erste Dimension berücksichtigt, droht der Rückfall in gesellschaftliche Spaltung und autoritäre Traditionen.

Dazu kommt das Problem der erforderlichen Nachhaltigkeit. Wenn Marktwirtschaft nützlich sein soll, muss sie in soziale und ökologische Spielregeln eingebettet werden. Denn nur mit politisch definierten, gesellschaftlich verantworteten Rahmenbedingungen kann sichergestellt werden, dass Wertschöpfung unter sozial- und naturverträglichen Bedingungen entsteht. Und nur unter solchen Bedingungen wird sich Marktwirtschaft dauerhaft als das bessere System etablieren.

Es ist die zentrale ordnungspolitische Aufgabe, für Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen der Markt seine Kräfte so freisetzt, dass eine Kombination der wichtigsten gesellschaftlichen Ziele erreichbar ist: Wohlstand für möglichst viele, sozialer Ausgleich für die Schwächeren und ein auf Nachhaltigkeit angelegter Umgang mit Ressourcen und Umwelt. Gelingt diese Kombination, ist sie immer ein Produkt einer klugen Gewaltenteilung zwischen Ökonomie und Politik.

Wirtschaftspolitik ist Teil einer Wert-Ordnung

Es scheint, dass das Wissen um diese Gewaltenteilung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Im Überschwang der Erwartung, Marktwirtschaft müsse „ohne Vorzeichen“ (Vaclav Klaus) funktionieren, kam dem Staat nur mehr die Rolle zu, der Wettbewerbswirtschaft Platz zu machen und den Unternehmen möglichst wenig im Weg herumzustehen. Wirtschaftspolitik ist aber im Gegensatz dazu Ordnungspolitik im Rahmen einer Wertordnung. Darauf wies Wilhelm Röpke, einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft, schon zur Gründerzeit dieser einzigartig erfolgreichen Wirtschaftsordnung hin: „Die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in eine höhere Gesamtordnung eingebettet werden, die nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann“.

Diese grundsätzliche Sicht der Wirtschaft als einer gesellschaftlichen Teilordnung vertraten schon die Denker des klassischen englischen Liberalismus. Der Staat ist politisch für die Rahmenbedingungen verantwortlich, unter denen die freie Wettbewerbswirtschaft -–in deren Ablauf er nicht eingreift – die produktiven Kräfte freisetzen und zu gesellschaftlich gewünschten Resultaten führen kann. Mit genau diesem Konzept trat die Soziale Marktwirtschaft an, um einen eigenständigen Weg zwischen dem gescheiterten Neo-Liberalismus der Dreißigerjahre und dem Versagen der Planwirtschaften zu finden.

Die ideengeschichtlich erstmalige ideelle Allianz eines humanistisch geprägten Ordo-Liberalismus mit den Prinzipien der christlichen Sozialethik („rheinischer Kapitalismus“) fand ihre österreichische Entsprechung im Raab-Kamitz-Kurs. Sie erwies sich tatsächlich als der von ihrem politischen Schöpfer Ludwig Erhard erhoffte Weg zum „Wohlstand für alle“. Nach der Lösung der sozialen Frage konnte in Ländern mit sozial-marktwirtschaftlichen Systemen auch die Lösung der Umweltfragen weit vorangetrieben werden. Allerdings wurde im Lauf der Jahre das ordnungspolitische Ziel einer klugen Gewaltenteilung von Politik und Wirtschaft mehrfach verletzt: zunächst in Richtung eines überbordenden Etatismus und einer kaum mehr überschaubaren Gesetzesflut, dann wieder in Richtung eines missverständlichen Rückzuges der Politik aus ihren wirtschaftspolitischen Gestaltungsaufgaben.

Neue Rahmenbedingungen für die Globalisierung

Nun setzt aber selbst eine ihrem Verständnis nach auf geringstmöglichen Staatseinfluss reduzierte Wirtschaftspolitik eine Standortbestimmung voraus, in der die Kriterien für die Schaffung kluger Rahmenbedingungen für die Entfaltung von Wettbewerb geklärt werden. Der Bogen reicht von der Bildungs- und Innovationspolitik zur Infrastrukturpolitik, von der Steuerpolitik bis zur Sozialpolitik, von der Kapitalmarkt- bis zur Wettbewerbspolitik. Mit der Schaffung des Binnenmarktes stellen sich vergleichbare Aufgaben auf europäischer Ebene. Der europäische Rahmen für Wettbewerb hat neue, grössere Spielflächen geschaffen, die für alle Industrien und Dienstleistungen, aber auch für Bereiche wie Energiewirtschaft, Telekommunikation und Medien gelten. Dazu kommt der mit dem Euro erst möglich gewordene europäische Kapitalmarkt mit leistungsfähigen neuen Finanzierungsinstrumenten und Finanzmarkt-Spielregeln. Durch die Gemeinschaftswährung in ihrer Haushaltsdiziplin fiskalisch aneinander gebundene Mitgliedsländer suchen gemeinsam nach Antworten im Rahmen der Spielregeln des Binnenmarktes.

In globalisierten Märkten ergibt sich eine noch ungewohnte, zusätzliche ordnungspolitische Handlungsebene für die Schaffung von Rahmenbedingungen, unter denen der Markt nun auch global in die gewünschte Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wirkt. Auch hier heissen die Instrumente Wettbewerbspolitik, Kapitalmarktpolitik, vergleichbare Besteuerung von unternehmerischer Wertschöpfung und Kapitaltransfers, aber auch die Einigung auf die Durchsetzbarkeit sozialer wie ökologischer Mindesstandards.

Es ist auffallend, dass uns heute die Schaffung international übereinstimmender Rahmenbedingungen oft schwieriger erscheint als in den Gründerjahren all jener unter dem Dach der Vereinten Nationen stehenden Organisationen, die für die Etablierung eines internationalen marktwirtschaftlich-demokratischen Common sense geschaffen wurden. Sie sind heute nicht mehr als wirklich engagiert wahrnehmbar und es gelingt ihnen nicht mehr, die Internationalisierung mit jenem auch ideellen Elan voranzutreiben, der für Unterstützung in jenen Ländern sorgen würde, die man zwar nicht mehr Entwicklungsländer, wohl aber in verkürzter Begrifflichkeit „emerging markets“ nennen darf.

Auch ist der Mangel an konzeptionellen Entwürfen auffallend, die zu einer Lösung der offensichtlich die weitere Entwicklung behindernden Ungleichgewichte zwischen den etablierten Marktwirtschaften und den neu hinzugekommenen Märkten und Menschen beitragen könnten. Dabei könnte die humanitär-strategische Logik, mit der der Marshall-Plan in den besiegten Ländern des Zweiten Weltkrieges zu den einzigartigen materiellen und immateriellen Resultaten einer Integration der ehemaligen Kriegsgegner in die OECD geführt hat, zweifellos auch auf die heutige Weltlage Anwendung finden: Marshall-Pläne als Instrument der Friedenssicherung könnten mit den Bruchteilen jener Militärbudgets finanziert werden, die zur Abwehr von Krisen vorgehalten werden, die aus der Spaltung der Welt in Habende und Habenichtse entstehen.

Wirtschaftsordnung jenseits des Shareholder-Value

Es ist eine viel zu oft vernachlässigte Voraussetzung für den nachhaltigen Erfolg marktwirtschaftlicher Systeme, dass sie neben der materiellen Wertschöpfung auch immaterielle Werte schöpfen, dass sie „Sinn machen“, dass sie als gesamtgesellschaftlich wertvoll angesehen werden. Fehlt dieses Element, geht der gesellschaftliche Zusammenhalt – das was Ralf Dahrendorf „Ligaturen“ genannt hat – verloren. Ein auf Kurzfrist-Maximierung getrimmter Shareholder-Value zerstört, wenn er aus politischer Selbstvergessenheit zum Werte-Fetisch erhoben wird, letztlich die Bindung der Bürger an ihr Wirtschaftssystem – oder lässt solche Bindungen dort nicht aufkommen, wo Marktwirtschaft erst etabliert werden muss.

Es gehört in diesem Sinn zur Verantwortung von Politikern, Führungskräften und Ökonomen, an der ständigen Weiterentwicklung angemessener Rahmenbedingungen für eine Wettbewerbsordnung zu arbeiten, die den alten Zielkonflikt von Effizienz und Gerechtigkeit zu entschärfen hilft. Gerade weil wir die Früchte der diesbezüglichen Anstrengungen der Gründer der Sozialen Marktwirtschaft genießen, sollten wir dazu beitragen, dass eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft zum europäischen Leitstil einer modernen Wettbewerbswirtschaft und damit zum Gestaltungselement einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung werden kann.

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