Vortrag bei den „Carinthischen Dialogen“ 2009, publiziert in der Festschrift für Univ.Prof.Dr. Manfred Prisching, Graz 2010
Der kumulierte Schaden, den die Finanzmarktkrise seit ihrem Ausbruch im Sommer 2007 angerichtet hat, kommt bis heute der globalen Wertschöpfung eines ganzen Jahres gleich. Es genügt ein Blick auf das nach wie vor geschwächte Bankensystem und eine angeschlagene Realwirtschaft, um zu wissen, dass zwar das Ärgste, aber wohl noch nicht alles vorbei ist.
Auch wenn der vorübergehende Börsen-Boom Teile der Finanzwirtschaft wieder dazu verleitet, an die Spieltische des „Casino-Kapitalismus“ (Hans-Werner Sinn) zurückzukehren und dort nach den gleichen Regeln weiterzuspielen, die uns den Kollaps der Finanzmärkte beschert haben: es besteht wohl kein Zweifel mehr daran, dass hinter der Entstehung einer Krise dieser Dimension systemische Ursachen stehen, die nicht mit marktinhärenter Volatilität oder als bloße Folge des „irrationalen Überschwangs“ der Marktteilnehmer erklärbar sind.
Ein solches Erklärungsmuster mag gerade noch für den Zusammenbruch der sogenannten „New Economy“-Blase im Jahr 2000 ausgereicht haben – obwohl mit dem Wissen von heute im damaligen Crash wohl schon der Vorläufer einer fundamentalen Krise erkennbar gewesen wäre, deren Ursachen wesentlich tiefer gehen.
Dennoch steht im Vordergrund gerade der öffentlichen Diskussion immer noch der Blick auf Einzelfälle und die Frage nach einem damit möglicherweise verbundenen schuldhaften Verhalten. Eine Auseinandersetzung über die Notwendigkeit einer grundlegenden Gesamtkorrektur der Spielregeln des Finanzsystems unterbleibt weitgehend oder wird auf einer abstrakten, unverbindlichen Ebene gehalten. Der Boom auf den Aktienmärkten seit März 2009 hat das seine dazu getan, alle Ansätze zu vertiefender Analyse zu relativieren.
Schuldfrage oder Systemkrise?
Ein für den oberflächlichen Umgang mit der Krise durchaus typisches Beispiel war der im Sommer 2009 ausgebrochene innenpolitische Streit um nach einem Rechnungshofbericht bekannt gewordene, fehlgeschlagene Geschäfte der Bundesfinanzierungsagentur (ÖBFA). Traditionelle Kernaufgabe dieser Sondergesellschaft des Bundes zur Verwaltung der Staatsschulden ist die bedarfsgerechte Neuaufbringung von Geldern auf den Kapitalmärkten und die bestmögliche Veranlagung vorübergehender Liquiditätsüberschüsse.
Ein erweiterter Handlungsspielraum für Veranlagungsgeschäfte zur Ertragssteigerung wurde den Schulden-Managern erst vor wenigen Jahren eingeräumt. Diese Lizenz zur vermeintlich gewinnbringenden Veranlagung von geliehenem Geld erweist sich aus heutiger Sicht als problematisch, führte doch der Einbruch der Märkte im Herbst 2008 führte zu beträchtlichen Wertkorrekturen bei sogenannten strukturierten Wertpapieren.
Auch wenn die Finanzierungsagentur den Schaden durch Verweis auf vor der Krise realisierte Gewinne und einen seit Eröffnung des neuen Geschäftsfeldes insgesamt positiven Saldo zu relativieren suchte, verlangten die Medien nach Aufklärung, Suche nach Schuldigen und Übernahme von Verantwortung. Das Thema wurde in der Folge politisch instrumentalisiert und brachte Kurzzeit-Finanzminister Wilhelm Molterer um seine zuvor bereits grosskoalitionär paktierte Aufgabe als künftiger EU-Kommissar. Schließlich setzte ein regelrechter Wettlauf um die Schaffung einer neuen Rechtslage ein, mit der Geschäfte, die über die Veranlagung von vorübergehenden Liquiditätsüberschüssen hinausgehen, für die Zukunft ausgeschlossen werden sollen. Ein Expertenrat wurde damit beauftragt, dahingehend neue, strengere Veranlagungsrichtlinien zu definieren.
Mit der Weisheit des Rückblicks das Vorgehen der Bundesfinanzagentur zu kritisieren und nach medialer Vorführung der Verantwortlichen durch ein Verbot künftiger „spekulativer“ Veranlagungen für gelöst zu erklären, greift allerdings zu kurz. Die Wahrheit liegt in diesem und den meisten öffentlich gewordenen Anlassfällen nämlich tiefer – und sie ist möglicherweise noch unangenehmer als der vordergründige Streit um Schuldzuweisungen.
Fehlerhaft war nämlich nach allem, was bisher öffentlich bekannt ist, nicht das Verhalten der Schuldenmanager. Sie bemühten sich, das Vermögen der Republik gemäß ihrem Mandat nach den damals geltenden Spielregeln der Finanzmärkte zu mehren. Vielmehr sind diese Spielregeln mit dem Wissen von heute fundamental in Frage zu stellen – auch wenn sie bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise im Rang unbestreitbarer Glaubenssätzen standen.
Diese nüchterne, in den Konsequenzen tiefer gehende Sichtweise hätte wohl zu keiner Regierungskrise geführt, sondern wäre der geeignete Ausgangspunkt einer grundlegenden Analyse der systemischen Zusammenhänge der aktuellen Krise geworden. Diese verdient – neben den laufenden Löscharbeiten – absolute Priorität, ist doch die Kenntnis der Ursachenkette Voraussetzung für konkrete Schritte zur Sanierung des Systems im Rahmen einer gesamthaft neuen Finanzmarktarchitektur.
Die damit untrennbar verbundene, übergeordnete Fragestellung lautet: Wie viel Freiheit vertragen die Finanzmärkte, in welche Rahmenbedingungen sind ihre Akteure einzubinden und welch ein Verständnis von Marktwirtschaft braucht es, um die Verhältnisse durch mehr ordnungspolitische Klarheit zu entwirren und wieder steuerbar zu machen. Antworten darauf lassen sich leichter finden, wenn wir den Bogen zunächst noch etwas weiter spannen und über den Umweg einer Rückblende auf das Jahr 1989 auf einige lange schon nicht mehr gestellte Grundsatzfragen der Politischen Ökonomie eingehen.
Marktwirtschaft ohne Vorzeichen
Vor zwei Jahrzehnten brachte der Zusammenbruch der zentralistischen Wirtschaftsweise die einzigartige historische Chance mit sich, in den betroffenen Staaten marktwirtschaftlich-demokratischen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen. In den Folgejahren setzte sich in der Mehrheit der Reformstaaten die puristische Doktrin des reinen Marktes durch.
In der im Sommer 2009 – unmittelbar vor dem G20-Gipfel in der mittelitalienischen Erdbebenstadt Aquila – veröffentlichten, jüngsten Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“ heißt es zutreffend: „Nach dem Zusammenbruch der wirtschaftlichen und politischen Systeme der kommunistischen Länder Osteuropas wäre ein umfassendes Neudenken der Entwicklung nötig gewesen. Dieses ist jedoch ausgeblieben.“
Die kontinental- und nordeuropäischen Staaten mit ihren durchaus erfolgreichen wohlfahrtsstaatlichen und sozial-marktwirtschaftlichen Traditionen nahmen überraschend wenig Einfluss darauf, für welchen Wirtschaftsstil sich die neuen Marktwirtschaften entschieden. Die Mehrheit der Reformstaaten tendierte zur Orientierung am US-amerikanischen Vorbild.
Ich erinnere mich an mein eigenes Scheitern bei dem Versuch, 1991 Hörern an der Universität Bratislava das Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ erklären zu wollen. Schon terminologisch befand ich mich damals gegenüber meinen Zuhörern auf verlorenem Posten, erinnerte sie doch die Rede von einer (sehr wörtlich übersetzt:) „social market economy“ allzu stark an jenen Realsozialismus, dem sie eben erst entronnen waren.
Wohl auch aus solchen Gründen siegte vorderhand in den meisten Nachbarländern die „reine Lehre“ einer „Marktwirtschaft ohne Vorzeichen“, wie Tschechiens Präsident Vaclav Klaus sie nannte. Ja mehr noch: Seit dem Fall der Mauer wurde der Glaube an die selbstregulierenden Kräfte des Marktes und damit die Ablehnung jeglicher staatlicher Intervention in praktisch allen postsozialistischen Ländern zum vorherrschenden Leitbild.
Die neue Sichtweise strahlte auch auf die etablierten Marktwirtschaften aus. In ihnen trat an die Stelle des politischen Raumes als Zentrum und Ausgangspunkt von Initiativen für neue Rahmenbedingungen zusehends der Einfluss von monopolistisch bis oligopolistisch organisierten Experten- und Lobby-Organisationen. Das reicht von dem für Bank-Regulative maßgeblichen Komitee bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel über die regelbestimmenden Hüter des Rechnungswesens (IAS-Board) bis zu den übermächtigen, niemandem zur Rechenschaft verpflichteten Rating-Agenturen.
Aus dem Ausbruch in die ökonomische Freiheit wurde eine Autonomisierung der Ökonomie bis hin zu ihrer vollständigen Ent-Politisierung, verbunden mit einer zunehmenden Ökonomisierung der Politik.
Ein anderer Weg zur Knechtschaft
Die Ökonomen und Finanzmarkttheoretiker an den Universitäten lieferten dazu die perfekten Rechtfertigungslehren. Die Fiktion von den jederzeit die Einschätzung aller Marktteilnehmer widerspiegelnden Preisen erlaubte es, den Markt nicht nur mikroökonomisch sondern auch gesamtwirtschaftlich zum sich selbst steuernden und auch jederzeit selbst korrigierenden Instrument zu erklären.
Der tautologische Lieblingssatz aller Kapitalmarkt-Gläubigen - „Der Markt hat immer Recht“ - kann aber auf Dauer politische Programme nicht ersetzen. Wer solches dennoch glauben will, ergibt sich letztlich einem deterministischen Gesellschaftsprogramm, in dem die uneingeschränkte Freiheit der Marktidee paradoxerweise zur Quelle von Unfreiheit zu werden droht. Denn außer Kontrolle geratene Marktkräfte können am Ende ihre eigene Existenzgrundlage zerstören, wenn sie nicht in ein gesamtgesellschaftlich verankertes Werte-Gerüst eingebettet sind. Das wäre dann ein „Weg zur Knechtschaft“ ganz anderer, unerwarteter Ausrichtung.
Und doch ist es Friedrich August Hayek, der sich – zum durchaus beabsichtigten Ärgernis von Marktfundamentalisten – als Zeuge dafür anführen lässt, dass die Entfaltung von Marktfreiheit bestimmte, diese Freiheit begrenzende Voraussetzungen hat. In einer grundlegenden Rede über „Das moralische Element in der Unternehmerwirtschaft“ erinnert Hayek daran, dass „eine freie Gesellschaft nur dort funktionieren wird, wo freies Handeln von starken Moralvorstellungen geleitet ist, und dass wir daher alle die Vorteile der Freiheit nur dort genießen werden, wo die Freiheit bereits wohlbegründet ist. Hinzufügen will ich, ….. dass sich in einer freien Gesellschaft auch moralische Maßstäbe herausbilden können, die, wenn sie allgemein werden, die Freiheit und mit ihr die Grundlage aller moralischen Werte zerstören werden.“
Zwei Spielarten des Liberalismus
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew beschrieb kürzlich die Versäumnisse der ersten, wilden Jahre der Systemkonversion. Die Unterstützung der liberalen Reformer in den post-sowjetischen Jahren seitens des Westens sei damals zu gering gewesen, viel stärker hätte man sich auf die neuen Oligarchen konzentriert. Nicht zuletzt deshalb sei Russland nicht den europäischen Weg gegangen. Und dann sagt er einen Satz, der mich sehr bewegt hat: „Der Hochmut der Liberalen hat die Demokratie diskreditiert“.
Zwei Verständnisweisen von Liberalismus prallen hier aufeinander, die uns weiter beschäftigen werden:
Hier der Liberalismus der mündigen Bürger, die sich in Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte als freie Menschen auch ins Politische einbringen, der Liberalismus der so genannten Zivilgesellschaft, der partizipatorische Liberalismus.
Und auf der anderen Seite der funktionale Liberalismus der vollkommenen wirtschaftlichen Entfaltungsfreiheit – im Extrem bis hin zur Regellosigkeit. Die Hochmütigkeit dieser Lesart von Liberalismus besteht eben darin, dass er für sich beansprucht, gleich auch für die Gesellschaft als Ganze den richtigen Ansatz zu liefern.
Oder, anders formuliert:
Hier ein Unternehmer-Liberalismus der sozial gebundenen, verantworteten Marktwirtschaft, dort ein an der Finanzwirtschaft orientierter, sozial ungebundener Aneignungs-Liberalismus mit Spielregeln, die eher das Nehmertum begünstigen als das Unternehmertum zu fördern.
Wohin uns diese Lesart geführt hat, beschreibt der amerikanische Publizist Malcolm Gladwell so: „Wir werden auf die Jahre zwischen 2000 und 2008 zurückblicken als eine äußerst merkwürdige Ära. Es gab nicht nur die verschiedenen Blasen, es war auch die Zeit, in der wir unser Streben nach sozialer Gerechtigkeit aufgegeben haben. Unser moralischer Kompass war uns abhanden gekommen. In New York, dem Epizentrum dieser Ungleichheit, lebten ein paar hundert Meter voneinander entfernt Leute, die 10.000 Dollar im Jahr verdienten und andere, die buchstäblich eine Milliarde Dollar verdienten. Eine solche Diskrepanz hatte es seit den 1890-ern nicht mehr gegeben.“
Und Peter Sloterdijk fügt hinzu: „Das Habenwollen wurde zum Leitaffekt, es ist jetzt in keiner Weise mehr ausbalanciert durch das Gebenwollen.“ Sloterdijk hält sich übrigens zugute, die Krise wenigsten geahnt zu haben und belegt das mit einer bemerkenswert poetischen Kapitalüberschrift in seinem vor vier Jahren erschienen Essayband „Zorn und Zeit“. Sie lautet: „Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen“.
Mit-Verantwortung für neue Spielregeln
Der gangbare Weg kann wohl nur in einer „verantwortlichen Freiheit“ (Ralf Dahrendorf) bestehen, einem Freiheitsbegriff also, der sich mit Blick auf Verantwortlichkeit für seine Folgen rechtfertigt. Die begriffliche Analogie für ein Wirtschaftssystem, dem dieser Freiheitsbegriff zugrundliegt, lautet eben „verantwortete Marktwirtschaft“. Von „Responsible Capitalism“ handelt die mittlerweile dazu ebenfalls aufgeflammte amerikanische Diskussion. Eine Marktwirtschaft „mit Vorzeichen“ also, und das Vorzeichen besagt nichts anderes als: „respice finem“ – achte auf die Folgen Deines Tuns.
Wir tragen demnach Mit-Verantwortung für die Gestaltung der Spielregeln in eine Richtung, die das Wirtschaftssystem als Ganzes sozial und ökologisch ausgeglichen hält und die dafür sorgen, dass Effizienz und Gerechtigkeit vereinbar bleiben. Das gilt für eine neue Ordnungspolitik auf der Ebene der Globalisierung ebenso wie die europäische Ebene und den Nationalstaat.
Dieser ordnungspolitische Exkurs sollte die Einordnung der im folgenden wieder auf die Finanzmärkte fokussierten Reformansätze erleichtern.
Aufeinanderprall unterschiedlicher Finanzierungskulturen
Eigentlich hätte ja schon die Krise der „New Economy“ ab dem Sommer 2000 als Warnung dienen können. Sie zeigte nämlich schon alle Elemente einer systemischen Entgleisung und einer unheilvollen Ansteckungswirkung von Finanzkrisen auf die Realwirtschaft. Bedauerlicherweise wurde sie aber letztlich als Betriebsunfall eingeordnet, der auf das Platzen einer – diesmal allerdings sehr umfangreichen – spekulativen Blase (eben jener der Informations- und Telekommunikationstechnologien) zurückzuführen war.
Der damalige Präsident der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, steuerte massiv dagegen. Er senkte in mehreren Schritten die US-Leitzinsen auf historisch niedrige Niveaus. Damit gelang zwar die Ankurbelung des amerikanischen Konsums – aber um den Preis hoher Neuverschuldung im In- und Ausland. Gleichzeitig legte er damit den Grundstein für eine zuletzt völlig entglittene Überschuldung Millionen amerikanischer Familien beim Erwerb von Wohnbauimmobilien.
Schon damals war erkennbar, dass es zu einem bedrohlichen Aufeinanderprall der anglo-amerikanischen mit der traditionellen kontinentaleuropäischen Finanzierungskultur kommen musste. Ich nannte ihn beim Europäischen Forum in Alpbach 2004 in Anlehnung an Samuel Huntingtons „Clash of Civilisations“ einen „Clash of Financial Cultures“.
In der kontinentaleuropäischen, am (Universal-)Bankensystem orientierten Finanzierungskultur lauteten die vorherrschenden Prinzipien Gläubigerorientierung und daher vorsichtige Bilanzierung (Anschaffungs- bzw. Niedrigstwertprinzip), Bildung stiller Reserven, enge Verschränkung mit der Realwirtschaft über ein ausgeprägtes Universalbankensystem, langfristige Ausrichtung und daher langfristige Management-Incentives.
In der angloamerikanischen, an den Kapitalmärkten orientierten Finanzierungskultur dominiert hingegen Anlegerorientierung und Shareholder-Value-Prinzip, Bilanzierung nach Marktwertmethoden, sofortige Wert-Realisierung, kurzfristige Management-Bonussysteme (Aktien-Optionen, Messung am „Return on Equity“), entsprechend kurzatmige Ausrichtung von Unternehmensstrategien und letztlich Entfernung von den Bedürfnissen der Realwirtschaft.
Buchgeldschöpfung durch marktwertorientierte Bilanzierung
Die durchaus begrüßenswerte Öffnung der internationalen Finanzmärkte ging im Zuge der Globalisierung mit einer weltweiten Orientierung am angloamerikanischen System einher. Dieses enthält aber mit der kapitalmarktorientierten Bilanzierung in Verbindung mit den gleichlaufenden Management-Entlohnungssystemen gerade im Bankbereich extrem prozyklische Elemente.
Durch Marktbewertungen entstehen im Wege von Werterhöhungen Scheingewinne, die zum Ausweis von erhöhtem Eigenkapital und damit einer gesteigerten Verschuldungskapazität der Banken führen. Deren höhere Verschuldungsbereitschaft führt zu Preissteigerungen bei den angeschafften Gütern und damit wiederum erhöhten Marktbewertungen – mit weiterer Ausweitung der Spielräume für Banken-Neuverschuldung.
Dieser wundersame (Buch-)Geldschöpfungsmechanismus, der von den aktuellen Bilanzierungsmethoden extrem gefördert wird, wurde von den Notenbanken und Finanzmarktaufsichten dieser Welt beunruhigenderweise weitgehend ignoriert. Während sie damit beschäftigt waren, die Verbraucherpreisinflation unter Kontrolle zu halten, entging ihnen die Herausbildung einer gigantischen Finanzmarktblase, deren Platzen nun die Realwirtschaft mit voller Wucht trifft.
Doch die Bilanzierungsmethoden waren nicht der einzige Treibsatz des Aufschwungs. Obwohl die auf Marktbewertungen beruhenden Scheingewinne das echte Eigenkapital gegenüber den laufend erhöhten Fremdmitteln immer kleiner werden ließen, wurde den Banken mit den Eigenmittelvorschriften von Basel II noch ein weiterer starker Anreiz zu überbordender Buchgeldschöpfung an die Hand gegeben.
Falsche Weichenstellungen in der Banken-Regulierung
Obwohl dieses neue Regulierungssystem mit der hehren Absicht einer Erhöhung der Stabilität des Banksystems geschaffen wurde, bewirkte es im Ergebnis das Gegenteil. Schon die Aussicht darauf, im Rahmen der nun praktizierten „Risiko-Gewichtung“ für erstklassig geratete Veranlagungen (Assets) nur mehr wesentlich geringere Eigenmittel vorhalten zu müssen, löste einen Run in gut geratete Wertpapiere aus, begünstigte die Flucht in unregulierte Steueroasen und führte zu immer kühneren Versionen sogenannter „synthetischer“ Wertpapiere.
Diese stellten den im Modellversuch bestechenden, in der praktischen Anwendung aber trotz vielversprechender Anfänge letztlich drastisch gescheiterten Versuch dar, Risiken zu Wertpapieren zu bündeln und innerhalb dieser gebündelten Risiken nach abgestuften Ausfallwahrscheinlichkeit mit Rating-Noten zu bezeichnen und damit global handelbar zu machen. Heute wissen wir, dass hinter den Berechnungen der Ausfallwahrscheinlichkeiten einzelner Risikoschichten synthetischer Wertpapiere fehlerhafte statistische Methoden standen, die fälschlicherweise zu höheren Bonitätsbeurteilungen führten – meist zum Nutzen der mit diesem Geschäftsfeld zuletzt fast die Hälfte ihrer Erträge erzielenden Rating-Agenturen.
Vor dem Ausbruch der Krise waren ganze vier amerikanische Unternehmen mit einem Rating von AA ausgestattet, während gleichzeitig über 4000 (!) synthetische Wertpapiere aufgrund ihrer vermeintlichen Ausfallsicherheit mit dieser Top-Note bewertet wurden. Eben diese bewertungstechnische Fehleinschätzung verstärkte vor dem Hintergrund der allgemeinen – auch von den Regulatoren forcierten – Rating-Gläubigkeit den Investitionsboom in synthetische Wertpapieren. Dabei handelte es sich bei dieser Produktkategorie um eine Finanzinnovation, die bis dahin noch keinem wirklichen Markttest ausgesetzt worden war.
Mit dem Ausbruch der Krise wurden abrupt für synthetische Wertpapiere keine Preise mehr gestellt, die Märkte wurden illiquid, Refinanzierungen für ausserbankliche Sondergesellschaften blieben aus, die Wertansätze in den Bankbilanzen waren drastisch zu reduzieren.
Die in der Folge im Verhältnis zur Bilanzsumme immer dünner werdende Eigenmitteldecke der Banken ist nun, nach dem Schock der Lehman-Pleite, in der doppelten Abwärtsspirale von Marktabwertungen und Rating-Verschlechterungen krisenhaft knapp geworden und hat den größten jemals notwendigen Einsatz öffentlicher Mittel zur Rettung von Banken ausgelöst.
Dabei hätte wenigstens den Notenbankern und den für die Finanzaufsicht Zuständigen klar sein müssen, dass die den Märkten ohnehin innewohnende Tendenz zu spekulativen Schwankungen und zur Volatilität mit dem Maß der Markterweiterung durch Liberalisierung und Globalisierung wächst. Weiters wäre zu bedenken gewesen, dass der überwiegende Teil heutiger Finanztransaktionen mit realwirtschaftlichen Grundgeschäften nichts mehr zu tun hat, sondern der reinen Geldvermehrung dient.
Der Herdentrieb der Anleger, die nur gebannt auf erhoffte Kurzfristgewinne durch Imitation und Beobachtung von Mitbewerbern starren, ohne auf die Folgen ihres opportunistischen Tuns zu achten wird durch die herrschende Finanzmarkt-Ideologie sogar belohnt und verstärkt.
Rechnet man überdies mit der - die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes dramatisch fördernden - Erleichterung von Kapitaltransfers durch die neuen Informationstechnologien, hätte der Schluss der für die Überwachung der Finanzmärkte Verantwortlichen wohl nur lauten können, alle Regulative – und damit auch die Bilanzierungs- und Bankaufsichtssysteme – stabilisierend wirken zu lassen.
Stattdessen wählte man im ideologischen Rausch der Beschleunigung aller Marktkräfte auch noch prozyklische Verstärker in Verbindung mit großflächigen Realexperimenten mit neuen Finanzmarktinstrumenten, deren makroökonomische Wirkungsweise noch nie zuvor einem Realitäts-Check unterworfen worden war.
In Zukunft soll ein mittlerweile ins Auge gefasster Rat für systemische Finanzmarktfragen die Wiederholung eines solchen, letztlich auch den Notenbanken und Finanzmarktaufsichtsbehörden anzulastenden Kontrollversagens vermeiden helfen.
„Ohne Regulierung zerstören sich die Finanzmärkte“
Erst heute, nach dem Erwachen aus der Bewertungsillusion, wird klar, dass die nachhaltig auf den Finanzmärkten erzielbare Rendite nicht höher sein kann als jene in der Realwirtschaft. Spekulative, vorübergehende Wert-Überhöhungen werden im Abschwung durch umso drastischeren Wertverfall mehr als ausgeglichen, die extreme Volatilität gefährdet nicht nur die privaten und institutionellen Anleger, sondern letztlich die gesamte Realwirtschaft.
Jean-Claude Juncker meinte erst vor kurzem: „Wir haben viel zu sehr der Doktrin der totalen Liberalisierung vertraut. Wir haben geglaubt, das anglosächsische Modell sei einfach auf Europa übertragbar. Wenn ich hin und wieder gewarnt habe, dass das schiefgeht, wurde ich als Arbeiterromantiker belächelt und kam mir manchmal vor wie der letzte Kommunist.“ Und er fügt hinzu: „Das geschah übrigens in einer Zeit, in der die meisten EU-Staaten nicht konservativ regiert wurden.“
Nicht weniger treffend Wolfgang Schäuble: „Man hat uns lange – mit „uns“ meine ich alle, die nicht zu der kleinen, hoch angesehenen Klasse der internationalen Finanzexperten gehören -, man hat uns lange gesagt: Das versteht ihr nicht, das ist zu komplex, liebe Politiker, das kann man nicht regulieren. Nun haben wir gesehen, ohne Regulierung zerstören sich die Finanzmärkte. Es gibt keine Freiheit ohne Grenzen.“
Und Adair Turner, Chef der britischen Finanzmarktaufsicht, kam jüngst zu den folgenden bemerkenswerten Schlüssen:
„Auf der ganzen Welt haben wir uns zu sehr auf die Effizienz und die Selbstheilungskräfte der Märkte verlassen. Das ist ein grundsätzliches Problem des ökonomischen Denkens. In den vergangenen 25 Jahren haben die Volkswirte mit immer ausgefeilteren mathematischen Modellen zu beweisen versucht, dass Märkte effizient sind und sich Übertreibungen von selbst korrigieren. Sie haben den Zentralbanken und den Aufsichtsbehörden geraten, sich herauszuhalten. Heute wissen wir, dass diese Empfehlungen problematisch waren. Wir erleben nicht nur eine Krise des Finanzsystems, wir erleben eine Krise bestimmter Annahmen, die sich schlicht und einfach als falsch herausgestellt haben.“
Was zu tun sein wird
Es ist diese Art von Klarheit in der Analyse, die ich mir für unsere aktuelle finanzmarktpolitische Situation wünschen würde. Nach der durch die Finanzkrise so extrem geänderten Ausgangslage mit dem Wissen von heute ex-post Recht zu bekommen ist nicht das, worauf es ankommt. Viel wichtiger wäre es, ab sofort die richtigen Weichenstellungen vorzubereiten, mit denen in Zukunft vermieden wird, dass durch Entgleisungen eines grundlegend dysfunktional organisierten Finanzsystems die Unternehmerwirtschaft und damit die Gesellschaft als Ganze ins Wanken gerät.
Die notwendigen Konsequenzen für das Finanzsystem sind von fundamentaler Natur. Darüber dürfen uns auch jene nicht hinwegtäuschen, die schon wieder zu den Spieltischen rufen und so tun, als sei alles nur ein Betriebsunfall gewesen.
Die Stichworte zur globalen Finanzmarktreform lauten:
Konsequentes Abrücken von allen prozyklisch wirkenden Regeln, sowohl im Bereich der Bilanzierung als auch der Bankenregulierung.
Neue Stellgrößen für das Verhältnis von Bank-Eigenmitteln zur Bilanzsumme (Verhinderung von überzogenen Fremdmittel-Quoten)
Größte Transparenz auf allen – auch den außerhalb des Bankensystems liegenden – Finanzplätzen sowie in allen Finanzinstrumenten
Produktkontrolle für alle Finanzinnovationen (Zitat Adair Turner: „Ich glaube, dass ein Großteil der Finanzinnovationen der letzten Jahre der Gesellschaft nichts genutzt hat – das gilt auch für die USA oder Großbritannien“ (!))
Gründung einer europäischen Rating-Agentur
Weltweit einheitliche Prinzipien der Finanzmarktaufsicht
Die Themenstellung lautet also nicht weniger, als eine neue Finanzökonomie im Rahmen einer globalisierungstauglichen Welt-Wirtschaftsordnung zu schaffen. Denn so, wie es im Finanzbereich auf Dauer nicht möglich ist, wünschenswerte Liberalisierungsschritte ohne ordnungspolitischen Bezugsrahmen zu setzen, gilt dies auch für die globalisierte Wirtschaft.
Finanzmärkte im Rahmen einer globalen Ordnungspolitik
Richard David Precht, Autor des philosophischen Populär-Bestsellers „Wer bin ich – und wenn ja, wie Viele?“, formuliert das in der berühmten Serie des ZEIT-Magazins „Ich habe einen Traum“ so: „Wenn ich die Augen schließe und träume, träume ich nicht von einer Welt ohne Gier. Ich träume von einer Welt, in der die Gier der einen die Gier der anderen in Schach hält. „Ordnungspolitik“ nannte das Walter Eucken, der Vater der sozialen Marktwirtschaft. Wie schade, dass sie so aus der Mode gekommen ist. Heute müsste Ordnungspolitik dafür sorgen, dass eine solche Krise gar nicht erst entsteht.“
Jeffrey Sachs, jener Harvard-Ökonom, der vom marktradikalen Politikberater der ex-kommunistischen Staaten zum engagierten Vertreter eines „responsible capitalism“ und Sonderbeauftragten der UNO für die Armutbekämpfung wurde, beschreibt die globale Vision in Anlehnung an Ludwig Erhards legendäres Ziel des „Wohlstand für Alle“ als „Wohlstand für Viele“: eben die Ermöglichung von wettbewerblich organisierten Wirtschaftsformen zur Schaffung von Wohlstand für breiteste Bevölkerungsschichten unter demokratiepolitisch, sozial und ökologisch verantwortbaren Bedingungen.
Der Staat – besser: die res publica auf allen politischen Handlungsebenen – spielt bei diesem komplexen Stufenbau einer neuen Wirtschaftsordnung eine entscheidende Rolle, die weit über die undankbare Funktion einer bloßen Reparaturanstalt für die Fehler einer entgleisten Finanzwirtschaft hinausgeht.
Denn wenn diese Finanzmarktkrise eine systemische Krise ist, wenn die Krise der Weltwirtschaft eine Krise der politisch-ökonomischen Systeme ist, wenn die aktuelle Bewertungskrise auch Ausdruck einer Werte-Krise ist, wenn Wertschöpfung eine Funktion der richtigen Wirtschafts- und Werteordnung ist, und wenn wiederum die Wirtschaftsordnung ein Teil der Gesellschaftsordnung ist – dann gibt es zur Erneuerung der Ordnungspolitik im Sinne einer Versöhnung von Freiheit und Verantwortung keine Alternative.
Eine solche Erneuerung kann aber nur gelingen, wenn wir tiefer schöpfen. Einerseits bei alten, bewährten Quellen „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Wilhelm Röpke), aber auch bei neuen, inspirierten Querdenkern, die uns helfen, uns den richtigen Fragen zu stellen und unkonventionelle Antworten zu finden.
Wertschöpfung vor Geldschöpfung
Das übergeordnete Ziel ist letztendlich die „Verwirklichung einer sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten wirtschaftlich-produktiven Ordnung“, wie es so treffend in der Sozialenzyklika heißt, die sich im übrigen als bemerkenswert offen und anschlussfähig an den modernen Reformdiskurs erweist.
Der Preis für die ordnungspolitische Verwahrlosung des Finanzsystems in den letzten zwei Jahrzehnte ist hoch – hoffentlich nicht zu hoch für die Realwirtschaft und die öffentlichen Haushalte, denen die Ausfallhaftung dafür aufgebürdet wurde.
Es ist deshalb unabdingbar, die Grenzen der Freiheit der Finanzwirtschaft neu und zweifellos enger zu ziehen, als das zuletzt geschah. Dazu bedarf es schmerzhafter Korrekturen an verfehlten Systemelementen und einer eindeutigen Wiedereinsetzung des Bankensystems in die Rolle eines Dienstleisters der Realwirtschaft. Die richtige Reihenfolge muss wieder lauten: Wertschöpfung vor Geldschöpfung.