Dass die Brutalität des Hamas-Überfalls auf Israels Zivilbevölkerung massive Gegenschläge erzwingt, steht völlig außer Zweifel. Wann aber wird aus legitimer Gegenwehr Unrecht? Was hätte wohl Bertha von Suttner zu dieser eskalierenden Gewaltspirale gesagt? Wie hätte sie die Machtlosigkeit des UN-Sicherheitsrates angesichts der offenkundigen Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Streifen kommentiert? Wenn sogar UN-Generalsekretär Guterres zum Rücktritt aufgefordert wird, weil er unhaltbare Zustände beim Namen nennt: wer soll es dann noch wagen, dem Treiben mit einem entschlossenen „Die Waffen nieder“ Einhalt zu gebieten?
Seit dem 7. Oktober verdrängt die nahöstliche Kriegsfront den Ukraine-Krieg aus den Schlagzeilen. Dabei wird die Untergrenze der Zahl der darin umgekommenen Soldaten beider Seiten mittlerweile mit zweihunderttausend angesetzt. Und von den hundertzwanzigtausend durch Aserbeidschans Diktator Alijew aus Berg-Karabach vertriebenen, im Wortsinn tot-geschwiegenen, armenischen ChristInnen spricht ohnehin niemand mehr.
Mit einem Mal legt man gegenüber Autokraten wie Alijew oder Venezuelas Maduro einen neuen „Pragmatismus“ an den Tag. Erdgas und Erdöl aus diesen Ländern wird nicht mehr geächtet. Von „Blutgeld“ ist nur die Rede, wenn der Rohstoff aus Russland kommt. Währenddessen nützt China die militärische Ablenkung der USA, um sich vom Westen unabhängiger zu machen – zuletzt durch einen Rückzug aus US-Anleihen, der die Kosten der amerikanischen Staatsverschuldung gerade deutlich nach oben treibt.
Könnte Präsident Biden in jenem berührenden Moment, in dem er Netanjahu davor warnte, die gleichen Fehler zu machen wie die USA nach Nine-Eleven, gar auf die weichenstellende Situation seines eigenen Landes und mit ihm des gesamten Westens angespielt haben?
02. November 2023