Klartext 6

Eine Welt ohne Fugen

 

„Die Zeit ist aus den Fugen“. Wenn dieser zum Generalthema der Salzburger Festspiele gekürte Satz aus Shakespeares Hamlet damals schon gegolten hat – um wieviel mehr trifft er dann auf unsere Zeit zu! Wurden frühere mediale Sommerpausen meist noch mit Mutmaßungen über das Ungeheuer von Loch Ness überbrückt, droht uns heute ein pausenloser Informationsstrom über unlösbar erscheinende Konflikte zu überfordern.

Der nach dem Ende des Kalten Krieges aufblühende Traum von einer fortschreitenden „Verwestlichung“ der Welt ist zur Illusion verkommen. Die Geschehnisse in Niger, wo ein demokratisch gewählter Präsident über Nacht von einer Militär-Junta entmachtet wurde, die auch Moskaus Unterstützung genießt, machten dies zuletzt drastisch bewusst.

Neueste Waffentechniken unterstützen diese Entwicklung: man muss nicht mehr mit der Atomwaffe drohen, um Abschreckungswirkung zu entfalten. Noch wirksamer sind Rohstoffe, die die ganze Welt benötigt. Sie zwingen den Westen in nüchterner Abwägung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik dazu, mit diktatorisch-korrupten Rohstoff-Reichen im Geschäft zu bleiben.

Das Unterfangen, von solchen Staaten – wie auch von China – künftig weniger abhängig zu werden, beeinflusst wiederum die Preisbildung unzähliger Güter und hält die Inflationsraten hoch. Die Notenbanken werden deshalb gut daran tun, diesen Faktor einzubeziehen, bevor sie an weitere Zinserhöhungen zulasten der Konjunktur denken und an einem wohl für längere Zeit unrealistischen, zweiprozentigen Inflationsziel festhalten.

Europa jedoch steht im Jahr vor der Wahl zum EU-Parlament vor der höchst anspruchsvollen Aufgabe, seine innere Verfassung zu stärken, um all diesen geopolitischen Herausforderungen mit ausreichender Fugendichte begegnen zu können.

10. August 2023

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