Klartext 24

Das geht an die Substanz

 

Wie gerne hätte ich mich zum Jahreswechsel wieder in die tröstliche Weisheit aus dem Fledermaus-Libretto geflüchtet, dass „glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“.  Diesmal aber fühlten sich die Tage zwischen den Jahren deutlich weniger unbeschwert an als gewohnt, war doch in den Jahresrück- und Ausblicken aus aller Welt die so fantastische wie bestürzende Spannbreite dessen abzulesen, wozu der Mensch fähig ist: zu Höchstleistungen an Engagement, Erfindergeist und Weltverbesserung, aber auch zu unfassbaren Untaten, deren Dimension wir zum Selbstschutz unserer Gattung als „unmenschlich“ bezeichnen, obwohl auch sie in uns angelegt sind.

Und dann, als hätte das noch nicht gereicht, kurz vor Dreikönig, das innenpolitische Schockerlebnis des Abbruchs der Dreier-Koalitions-Verhandlungen und tags darauf die Kehrtwende der bisherigen Kanzlerpartei in Richtung Verhandlungsbereitschaft mit der Kickl-FPÖ. Das kann mit dem verunglückten Motto „Nicht so weiter wie bisher“ wohl nicht gemeint gewesen sein! 

Wie will die Volkspartei als maßgeblicher Schrittmacher des erfolgreichen EU-Beitritts nun sicherstellen, dass unser europäischer Auftritt nicht schleichend orbanisiert wird? Wer wird sich als VertreterIn einer Partei, die mitgeholfen hat, die öko-soziale Marktwirtschaft zum europäischen Modell zu formen, dafür engagieren, dass umweltpolitische Anliegen weiterhin ernst genommen und vorangetrieben werden? Und wer wird gewährleisten, dass die zweifellos notwendige Neuorientierung in der Migrationspolitik auf eine ethisch verantwortete Weise erfolgt?

Sollten die kommenden Verhandlungen zu diesen substanziellen Fragen keine klaren Antworten bringen, würde die ÖVP damit ihre politische Substanz in einer existenzgefährdenden Weise schwächen.

 

09. Jänner 2025

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