Gastkommentar für Die Presse, 09.09.2023
Zur Frage weiterer Zinserhöhungen hüllt sich die EZB in bedeutungsschweres Schweigen. Zugleich hält sie unbeirrt an dem auf absehbare Zeit wohl unerreichbaren zweiprozentigen Inflationsziel fest. Dürfen wir auf mehr Realitätssinn hoffen, bevor die Konjunktur noch weiter einbricht?
Aus heutiger Sicht klingt die Begründung, mit der die Europäische Zentralbank (EZB) zur Mitte des letzten Jahrzehnts im Gefolge der Staatsschuldenkrise eine zuvor noch nie praktizierte Politik der Minuszinsen einleitete, wie aus einer anderen Welt: angesichts niedriger, im Europaschnitt nur knapp über Null Prozent liegender Inflationsraten ginge es um die Vermeidung einer andernfalls drohenden Deflation. Man werde daher die Niedrigzinspolitik so lange beibehalten, bis eine Inflationsrate von annähernd – aber nicht über – zwei Prozent erreicht sei.
Etwa zeitgleich mit dieser das Kreditgeschehen und damit die Geldmenge ankurbelnden Maßnahme starteten in der Mitte des letzten Jahrzehnts großvolumige Anleihe-Ankaufsprogramme, die zu Beginn der Corona-Krise zusätzlich massiv aufgestockt wurden. Auch diese „unkonventionelle“ Maßnahme begründete man mit der Abwehr einer befürchteten Deflation. Im Lauf der Jahre wurde allerdings immer offenkundiger, dass damit vor allem die Anleihekosten der höher verschuldeten Euro-Länder in Grenzen gehalten werden sollten, um den Zusammenhalt der von unerwarteten Schuldenschocks erschütterten Eurozone nicht zu gefährden.
Nun steht zwar außer Streit, dass Notenbanken in ihrer umfassenden Verantwortung für die geldpolitische Seite des Wirtschaftsgeschehens einen Spielraum für unvorhersehbare Situationen benötigen. Euroland ist nun einmal nur Geldunion und nicht zugleich – wie die USA – auch Fiskalunion. Der mit der budgetären Selbständigkeit der Mitgliedsstaaten verbundenen Gefahr einer unerwünschten Fragmentierung oder gar eines Zerfalls muss deshalb laufend gezielt begegnet werden. Dennoch bringt die Anwendung von zweifelhaft begründeten Strategien die Gefahr eines Vertrauensverlustes mit sich.
Vor eben diesem Problem stehen wir im Augenblick in der Frage der zur Bekämpfung der Geldentwertung eingesetzten Zinspolitik. Nach einer zunächst sehr zögerlichen Verabschiedung von der langjährigen Minus- und Nullzinspolitik reagierte die EZB durchaus entschieden auf den sich ab dem zweiten Quartal 2022 abzeichnenden Anstieg der Inflationsraten. In nicht weniger als neun Zinsschritten erhöhte sie den Leitzins zuletzt auf 4,25 Prozent. Regelmäßig versichern die Währungshüter, dass man das Ende dieser Zinssteigerungen erst dort sieht, wo am Ende eine zweiprozentige Inflation in Aussicht steht.
So wie man die unerwünschten Nebenwirkungen der Niedrigzinspolitik ausgeblendet hatte – man denke nur an die mit extremen Steigerungen der Immobilienpreise und Börsenwerte verbundene Inflation der Vermögenswerte („asset-inflation“) – ist die EZB nun auch in der Hochzinsphase darum bemüht, die längst spürbaren konjunkturellen und sozialen Folgen ihres Tuns herunterzuspielen.
In ihren Veröffentlichungen versucht sie ein „Narrativ“ zu zementieren, dem ein gewissermaßen mechanistisches Auf und Ab von Zins- und Konjunkturzyklen aus der klassischen Geldmengentheorie zugrunde liegt. Dies obwohl der steile Anstieg der Inflation ab Beginn 2022 eben nicht in erster Linie durch Ausweitung der Geldmenge, sondern ganz offenkundig durch coronabedingte Lieferkettenprobleme und den vom Ukrainekrieg ausgelösten Energiekostenschock verursacht wurde.
Die fortgesetzte Anwendung von längst durch real- und geopolitische Umwälzungen außer Kraft gesetzten monetaristischen Standardrezepten auf diese doch ganz anders gelagerte Ursachenkette birgt die Gefahr, höchst unerwünschte Nebenwirkungen in Form eines starken Wirtschaftseinbruchs mit all seinen fiskal- und sozialpolitischen Folgewirkungen auszulösen. Man kann deshalb nur hoffen, dass in den zweifellos hochrangig besetzten ExpertInnen-Teams der EZB realistischer und politischer gedacht wird als man das nach außen kommuniziert.
Es gehört überdies zu den Euro-spezifischen Erschwernissen, dass eine schematische Anwendung des Zins-Instruments in Ländern mit unterschiedlich hohen Inflationsraten zwangsläufig ungleiche Folgewirkungen zeitigt. Eurostaaten mit jetzt schon sehr niedrigen Inflationsraten wie etwa Spanien werden sich daher zu Recht gegen weitere Zinsanhebungen wehren. Die mitunter stark ausgeprägte Unterschiedlichkeit der realwirtschaftlichen Dynamik von Euro-Mitgliedsstaaten hat eben zur Folge, dass die durchschnittliche Inflationsrate aller zwanzig Mitgliedsstaaten als Feinsteuerungsgröße der Zinspolitik wenig geeignet ist.
Einzelne Euroländer können ihre Wettbewerbsfähigkeit – in Ermangelung der Option einer Abwertung – durch eine vorübergehende Kosten-Deflation sogar stärken, wie das bei Griechenland in durchaus ausgeprägter Weise beobachtbar war. Durch Kosten- und Preisreduktionen ausgelöste, vermeintliche Deflationsbewegungen sollten deshalb nicht voreilig als negatives, zu bekämpfendes Phänomen interpretiert werden. Es ist vor diesem Hintergrund sogar wahrscheinlich, dass die EZB mit ihren Nullzinsen gegen ein Deflations-Phantom angekämpft hat, das in Wirklichkeit eine durchaus wohlstandsmehrende Folge der Globalisierung dargestellt hat. Die weltweite Arbeitsteilung erwies sich eben unbestreitbar als Vorteil für alle Mitwirkenden.
Die seit Beginn des Ukraine-Kriegs und der sich abzeichnenden Fragmentierung einer sich in neue Machtzonen aufteilenden Welt bringt nun allerdings eine gegenteilige Kostensituation mit sich: Der angestrebte Abbau von Rohstoff-, Energie- und Lieferkettenabhängigkeiten wird zwangsläufig zur strukturellen Verteuerung vieler Gütergruppen führen. Zugleich werden wir uns jedoch gezwungen sehen, bei der Auswahl der Herkunftsstaaten nicht allzu wählerisch zu sein.
Diese vor uns liegende, zumindest partielle De-Globalisierung wird unausweichlich zu strukturell höheren Inflationsraten führen. Zusätzlich führt das verstärkte Bemühen um CO2-neutrale Energiequellen und Investitionen in die dafür erforderliche Infrastruktur zu strukturellen Verteuerungen, da bisher nicht ins Preisgefüge eingerechnete Kosten der Umweltschädigung nun ihren – längst überfälligen – preislichen Niederschlag finden.
Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass die EZB trotz im Euro-Querschnitt wohl noch für eine ganze Weile deutlich über dem unerfüllbaren Zwei-Prozent-Ziel liegender Inflationsraten eine Zinssteigerungspause einlegt. Denn der Preis einer dogmatischen, auf überholten Gesetzmäßigkeiten beruhenden Fortsetzung des bisherigen Kurses wäre gefährlich hoch. Schon deshalb sollte man sich ausreichend Zeit nehmen, um die neuen realwirtschaftliche Gemengelage mit ihren preispolitischen Folgen richtig einschätzen zu können.
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