Beitrag für das BANKARCHIV, April 2021
Seit der Finanzkrise 2008 und der von ihr ausgelösten Staatsschuldenkrise operiert Europas Geld-und Fiskalpolitik im Krisenmodus. In Folge der COVID19-Krise wurde der Einsatz „unkonventioneller“ Instrumente weiter verstärkt und ist mittlerweile zur Routine geworden. Geldpolitisch geht es dabei vor allem um großvolumige Anleihekäufe bei zugleich extrem niedrigen Zinsen, budgetpolitisch hingegen um gewichtige nationale, sowie zuletzt auch gesamteuropäische Hilfspakete.
Gemessen am Hauptziel, die Volkswirtschaften der Eurozone vor den Folgen unerwarteter systemischer Schocks zu bewahren, erweist sich diese im übertragenen Sinn „intensivmedizinische“ Behandlung – trotz unerwünschter Nebenwirkungen – bisher als durchaus erfolgreich. Sie wird allerdings in einer erhofften „neuen Normalität“ nach dem Auslaufen der Pandemie nicht unverändert fortsetzbar sein. Denn Europas Finanzarchitektur hat sich in den drei aufeinanderfolgenden Krisen durch aus der Not geborene, neue Institutionen und Instrumente so stark verändert, dass herkömmliche Erklärungen für den Einsatz spezifischer Therapien längst nicht mehr ausreichen.
So werden Anleihekäufe der EZB mit dem Anstreben eines Mindest-Inflationszieles begründet, obwohl sie zuallererst der Absicherung des Zusammenhalts der Gemeinschaftswährung dienen. Nicht weniger problematisch ist die kollektive Verdrängung der Tatsache, dass der Corona-Wiederaufbaufonds schwerwiegende Konstruktionsfehler aufweist. Zugleich bedürfen die vor beinahe drei Jahrzehnten im Vertrag von Maastricht festgelegten Verschuldungsregeln einer grundlegenden Revision.
Die unabdingbare Erneuerung der europäischen Finanzverfassung muss eine Rahmenordnung zum Ziel haben, die das Streben nach fortschreitender Konvergenz mit der fiskalischen Eigenverantwortung aller Mitgliedsstaaten wieder nachhaltig vereinbar macht. Der folgende Streifzug durch das Kriseninstrumentarium der Geld- und Fiskalpolitik und deren Zukunftsperspektiven versteht sich als Diskussionsbeitrag zu diesem Reformprozess.
Lektionen aus der Staatsschuldenkrise
Im Rückblick zeigt sich, dass Europa auf die in Folge der Finanzkrise 2008 stark angestiegenen Staatsschulden und das damit verbundene Auseinanderstreben der Anleihekosten in den Euro-Mitgliedsstaaten zunächst mit großer Verzögerung reagierte. Beinahe ein Jahrzehnt lang hatte man sich nach Einführung der Gemeinschaftswährung an eine weitgehende Angleichung der Renditen von Staatsanleihen gewöhnt. Nun jedoch zeigte sich, wie exponiert Europa in Krisen ist – aus dem einfachen Grund, dass zwar die Geldpolitik zentral gesteuert wird, die Verantwortung für die Staatshaushalte der Mitgliedsstaaten jedoch national verankert bleibt. Ein vergleichbares Problem kann sich in den USA nicht stellen, da diese im Unterschied zu Europa als Fiskalunion agieren.
Allzu lange blieb unklar, ob eine bis dahin für undenkbar gehaltene Zahlungsunfähigkeit eines oder mehrerer Eurostaaten weiterhin ausgeschlossen werden konnte. Der Sonderfall Griechenland wurde zum Prüfstein dieser beinahe unaussprechlichen Fragestellung. Erst als die wachsende Unsicherheit über die Zukunft der Gemeinschaftswährung im Sommer 2012 zu einem Zerfall des Euro zu führen drohte, fiel die Entscheidung für den koordinierten Einsatz ganz neuer Instrumente. Mario Draghi kündigte als damaliger EZB-Präsident unlimitierte Liquiditätsunterstützung für Europas Banken an[1]. Begleitend dazu richtete die EU anstelle der zuvor lediglich temporären Notfallhilfen den permanenten Rettungsschirm ESM[2] ein. In späterer Folge kamen die ersten Anleihe-Kaufprogramme zum Einsatz.
Erst mit diesem umfassenden Maßnahmenpaket konnte die Staatsschuldenkrise erfolgreich eingedämmt werden, verdeutlichte es doch den internationalen Gläubigern glaubwürdig, dass Mitglieder der Eurozone keinesfalls im Stich gelassen werden. Dass sein Einsatz so spät erfolgte, erwies sich als äußerst kostspielig. Noch heute sind die Budgets höher verschuldeter Euro-Mitgliedsstaaten mit den überhöhten Zinskosten von damals belastet.
Erste geld- und fiskalpolitische Hilfen zu Beginn der Corona-Pandemie
Nach Ausbruch der Corona-Krise leistete man sich keine derartigen Verzögerungen mehr, war man sich doch diesmal der Risiken einer latenten gegenseitigen Ansteckungsgefahr der durch Zwischenbanken-Schuldbeziehungen und Staatsanleihen anderer Mitgliedsländer untereinander verflochtenen Euro-Staaten bewusst. Nachdem es Anfang März 2020 bereits zu einem ersten Anstieg der Anleiherenditen von Staaten wie Italien oder Spanien im Vergleich zur Deutschen Bundesanleihe gekommen war, widersetzte sich die EZB nur für kurze Zeit dem Ansinnen, das Auseinanderklaffen der Renditeaufschläge zu verhindern. Nach dringenden Appellen seitens der betroffenen Staaten setzte Präsidentin Christine Lagarde wenige Tage darauf das seit damals mehrfach aufgestockte Corona-Anleihe-Ankaufsprogramm („PEPP“) mit einem Startvolumen von EUR 750 Mrd. in Gang.[3] An den kurz darauf wieder auf das Ausgangsniveau zurückfallenden Anleiherenditen der betroffenen Staaten ließ sich ablesen, dass die erhoffte Wirkung unmittelbar darauf eintrat.
Der diskrete Beschluss, in Abweichung von den bis dahin geltenden Bestimmungen Anleihen von Euro-Mitgliedsländern auch dann anzukaufen, wenn sie über den vereinbarten Kapitalschlüssel hinausgehen, unterstützte diese rasche Normalisierung. Ohne diese Regel-Weiterung hätte es dem Anleihekaufprogramm wohl an Glaubwürdigkeit gefehlt.[4]
Beinahe zeitgleich fiel die Entscheidung der EZB in ihrer Funktion als oberste europäische Bankenaufsicht, den Banken Kapitalerleichterungen in einer Höhe von EUR 120 Mrd. einzuräumen, um deren Kreditvergabekapazität in der Krise zu stärken.
Das Wording der Presseaussendung zu diesem umfassenden Maßnahmenpaket der EZB ähnelte jenem der legendären „Whatever it takes“-Rede von Präsident Mario Draghi. Diesmal lautete es in deutscher Übersetzung: „Wir werden innerhalb unseres Mandats alles tun, was erforderlich ist, um den Euroraum in dieser Krise zu unterstützen.“[5]
Die großvolumigen Anleihe-Ankaufsprogramme der EZB stabilisierten die Situation auf den Finanzmärkten und lieferten damit bestmögliche Voraussetzungen für die Finanzierung der unabdingbar notwendig gewordenen budgetären Stützungsprogramme auf einzelstaatlicher Ebene. Darauf aufbauend initiierte die Europäische Kommission schon in der Frühphase der Pandemie im April 2020 eine ganze Reihe weiterer Sofortmaßnahmen mit einem Gesamtrahmen von EUR 540 Mrd.:
Der ESM wurde ermächtigt, ohne weitere Auflagen Darlehen in einer Höhe von bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts von durch Corona betroffenen Mitgliedsstaaten in einem Gesamtrahmen von EUR 240 Mrd. für Investitionen ins Gesundheitssystem auszureichen. Bemerkenswerterweise liegt für die Beanspruchung dieser Kreditlinie mit Stand Mitte März 2021 noch kein einziger Antrag vor.
Weiters wurde der Europäischen Investitionsbank (EIB) die Möglichkeit eingeräumt, einen Rahmen von EUR 200 Mrd. für Garantien an Unternehmen einzusetzen. Auch dieses Programm wurde bisher kaum beansprucht.[6]
Lediglich aus dem mit EUR 100 Mrd. zur Unterstützung von Kurzarbeit eingerichteten Sonderprogramm SURE[7] wurden namhafte Mittel in Form der Beanspruchung zinsgünstiger Refinanzierungen abgerufen.
Unter dem in dieser ersten Phase der Pandemie herrschenden Handlungsdruck kam es allerdings auch zu einer gravierenden, von der Medienöffentlichkeit wenig beachteten Erste-Hilfe-Panne an genau jenem 11. März, an dem die WHO Europa zu einem Zentrum der Pandemie erklärte. Damals trat die alarmierte EU-Kommission zusammen und strickte mit heißer Nadel ein Sonderprogramm[8] (Coronavirus Response Investment Initiative / CRII) in Höhe von 37 Milliarden Euro. Das so überraschende wie offensichtlich kontraindizierte Ergebnis der Schnellverteilung: Italien, das im März am schwersten von den COVID19-Folgen betroffene Mitgliedsland, erhielt daraus als Soforthilfe 6,8 Milliarden zugemessen, was etwa 0,35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts entspricht. Das von Corona kaum betroffene Ungarn hingegen wurde gleich mit 5,6 Milliarden oder 4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung beteilt.
Die EU-Kommission begründete diese überhastete Entscheidung mit Zeitnot. Man habe, um rasch zu agieren, einfach bisher unverbrauchte Mittel aus dem Kohäsionsfonds umgewidmet, deren üblicher Aufteilungsschlüssel jedoch in keinem wie immer gearteten Zusammenhang mit der aktuellen Krise steht.
Die Entstehung des EU-Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“)
Auf Ebene der nationalen Haushalte der EU-Mitgliedsstaaten begegnet man dem mit der Krise einhergehenden Einbruch der Konjunktur und den damit verbundenen Problemen am Arbeitsmarkt mit umfangreichen Sonderprogrammen. Die Palette reicht von der Unterstützung von Kurzarbeit über Kreditgarantien und Fixkostenzuschüsse bis zu speziellen Hilfen für einzelne Branchen und Bevölkerungsgruppen. Um die damit verbundene massive Neuverschuldung nicht mit den Zielen des geltenden Stabilitäts- und Wachstumspakts in Konflikt geraten zu lassen, wurde dessen Regelwerk einvernehmlich außer Kraft gesetzt. Zuletzt entschied die Kommission, ihn bis einschließlich 2022 nicht anzuwenden.[9]
Neben den budgetären Stützungsmaßnahmen in den einzelnen Mitgliedsländern nahm man sich schon im April 2020 vor, auch ein gesamteuropäisches Sonderpaket zu schnüren. Die EU-Kommission legte einen Monat später einen ersten konkreten Vorschlag vor, der bereits mittels Gemeinschaftsschulden finanzierte Transfers zwischen den Mitgliedsstaaten vorsah.[10] Im Juli 2020 erfolgte schließlich die politische Einigung auf das „Next Generation EU“ getaufte Corona-Hilfspaket mit einem Gesamtvolumen von EUR 750 Mrd. – eine Größenordnung, die vermutlich nicht zufällig jener des Startvolumens des Pandemie-Anleihekaufprogramms PEPP entspricht.
Das politische Ringen um Dimension und Struktur dieser „Aufbau- und Resilienzfazilität“ war im Vorfeld vor allem von Verteilungsfragen geprägt. Nachdem England als jahrzehntelanger bedeutender Nettozahler Brexit-bedingt an den einschlägigen Verhandlungen nicht mehr teilnahm, fand sich eine Gruppe von kleineren Nettozahler-Mitgliedsstaaten, die gemeinsam eine kritische Gegenposition zur Vorwegeinigung von Frankreich und Deutschland vertraten. Zu dieser Gruppe der „frugalen Vier“ gehörte neben den Niederlanden, Dänemark und Schweden auch Österreich. Etwas später gesellte sich Finnland als fünfter Teilnehmer dazu. Gemeinsam legten sie bei der Festlegung von Zielen, Instrumenten, Verteilungsschlüsseln und Kontrollmöglichkeiten der aufzubringenden Sondermittel erhöhten Wert auf Genauigkeit. Vor allem aber appellierten die fünf Regierungen dafür, jenen Teil des Hilfspaketes, der als nicht rückzuzahlender Zuschuss vorgesehen war, zugunsten einer höheren Quote zinsgünstiger Anleihen deutlich zu verkleinern.[11]
Im Endergebnis blieb es nach zähen Verhandlungen bei der von Kanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emanuel Macron von Beginn an vorgeschlagenen Gesamthöhe von 750 Milliarden, von denen immer noch beachtliche 390 statt der ursprünglich angepeilten 500 Milliarden als Direktzuschüsse vergeben werden sollen, während der verbleibende Anteil in Form von Darlehen ausgereicht wird.[12]
Auf Grund der Auseinandersetzungen um die von Ungarn und Polen bis zuletzt beeinspruchte Rechtsstaats-Klausel kam es erst kurz vor Jahresende 2020 zur endgültigen Einigung auf das parallel zu dem neuen 7-Jahres-Regelhaushalt der EU verhandelte Gesamtpaket. Die Verabschiedung im EU-Parlament erfolgte am 12. Februar 2021.[13]
Für die tatsächliche Aufnahme von gemeinschaftlichen Anleihen am Kapitalmarkt bedarf es nun noch der Ratifizierung durch all 27 Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten, deren Zustandekommen als weitgehend sicher gilt.[14] Der Ratifizierungsprozess im österreichischen Parlament, mit dem die durch das Corona-Paket erforderlich gewordene Erhöhung der Obergrenzen für den EU-Haushalt mit Verfassungsmehrheit zu beschließen sein wird, soll zeitgerecht im Laufe des April 2021 abgeschlossen werden.
Konzeptionelle Schwächen von „Next Generation EU“
Für eine rational nachvollziehbare, in plausiblem Zusammenhang mit den Folgekosten der Corona-Pandemie stehende Aufteilungsregel – vor allem der verlorenen Zuschüsse – nahm man sich während der Vorverhandlungen zu „Next Generation EU“ nur wenig Zeit. Die Zuteilung der vorgesehenen Hilfsmittel richtet sich nämlich weniger nach der direkten Corona-Schadensbilanz betroffener Staaten, als nach den herkömmlichen Aufteilungsschlüsseln gemäß deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. So ist für 70 Prozent der verfügbaren Mittel eine Zuweisung vorgesehen, die sich an der Bevölkerungsgröße, dem „umgekehrten BIP pro Kopf“[15] sowie der durchschnittlichen Arbeitslosenquote der fünf vorangegangenen Jahre (2015-2019) orientiert. Die verbleibenden 30 Prozent werden erst im Juni 2022 fixiert, wenn feststeht, wie hoch die Arbeitslosigkeit und der am BIP-Rückgang gemessene Konjunktureinbruch in den Empfängerstaaten bis dahin ausgefallen sein wird.
Die inhaltliche Schwerpunktsetzung des Gemeinschaftsfonds eröffnet große Interpretationsspielräume. Die Zuschüsse und Darlehen sollen ausschließlich für Projekte verwendet werden, die einer der folgenden sechs Inhalts-Säulen zurechenbar sind:
Grüner Übergang / Digitale Transformation / Wachstum, Arbeitsplätze und Kohäsion / Soziale und territoriale Kohäsion / Gesundheit, wirtschaftliche, soziale und institutionelle Resilienz / Strategien für die nächste Generation. Zusätzlich legt die EU-Kommission Wert auf Übereinstimmung mit den jeweiligen „länderspezifischen Empfehlungen“.
Auf Grundlage dieses Zielbündels müssen alle Mitgliedsstaaten bereits bis zum 30. April 2021 nationale Aufbau- und Resilienzpläne (NARP) erarbeiten und bei der EU-Kommission einreichen. Auch Projekte, mit deren Umsetzung bereits ab dem 1. Februar 2020 begonnen wurde, werden akzeptiert. Der Einreichplan enthält Etappenziele der Projektrealisierung bis August 2026, jenem Zeitpunkt, zu dem die Zuteilung sämtlicher Mittel abgeschlossen sein soll. Erste Fördermittel können schon ab Mitte 2021 angewiesen werden.
Beabsichtigt ist, bereits in den ersten beiden Jahren der Programmlaufzeit 70 Prozent der Fördermittel zur Auszahlung zu bringen, während die verbleibenden 30 Prozent für 2023 vorgesehen sind. Es verwundert nicht, dass bei einem derartigen Zeitdruck die Sorge entsteht, dass nicht nur die Empfängerstaaten mit deren Absorption überfordert sein könnten sondern auch die EU mit einer ausreichend genauen Kontrolle der zielkonformen Mittelverwendung.[16] In Verbindung damit besteht überdies die Gefahr einer bloßen Substitution nationaler Budgetpositionen für ohnehin geplante Vorhaben durch die nun verfügbaren Zuschüsse. Die erwünschte Additionalität des Hilfsprogramms käme mit solchen Umschuldungen zu kurz.
Die voraussichtliche Nettobelastung für Österreich aus dem Wiederaufbaufonds wird nach Schätzungen des Deutschen Bundesrechnungshofes bei ca. EUR 5,9 Mrd liegen. Dieser Saldo resultiert aus Rückzahlungsverpflichtungen von EUR 9,6 Mrd. und zu erwartenden Zuschüssen von EUR 3,7 Mrd.[17] Die österreichischen Einreichpläne für Projekte, mit denen diese Zuschüsse abgerufen werden können, befinden sind noch im Stadium der Vorbereitung und werden innerhalb der mit Ende April terminisierten Frist eingereicht.
In der Gesamtschau von „Next Generation EU“ fällt auf, dass die Kommission keine länderübergreifenden Projekte von gesamteuropäischer Bedeutung identifiziert hat. Transeuropäische Vorhaben aus den Bereichen Verkehrsinfrastruktur, Digitalisierung oder Alternativenergie fehlen.[18] Dabei wäre deren Finanzierung über gemeinsam aufgebrachte Mittel wesentlich schlüssiger begründbar als die nunmehr weitgehend auf nationale Pläne ausgerichtete Förderung.
Gesamteuropäische Steuern als Refinanzierungsinstrument
Von den genannten konzeptionellen Schwächen abgesehen, wird die Akzeptanz des mit einer faktischen Änderung der EU-Verfassung einhergehenden Corona-Hilfspakets maßgeblich davon abhängen, ob es gelingen wird, die spätere Rückzahlung der Gemeinschaftsschulden aus neu zu schaffenden, gesamteuropäischen Steuerquellen zu tätigen.
Da die Rückzahlung der über Gemeinschaftsanleihen aufgenommenen Gelder erst 2027 einsetzen und bis 2058 abgeschlossen sein soll, bleibt für die Festlegung solcher Quellen zwar noch Zeit – dennoch verwundert, dass in das vorliegende Vertragswerk keine diesbezüglichen Festlegungen aufgenommen wurden. Die sehr ungleich verteilten Rückzahlungsverpflichtungen wurden demnach festgelegt, bevor eine gemeinschaftliche Bereitschaft zur Einigung auf neue Steuerquellen abgesichert wurde. In späteren Verhandlungen kann daraus eine problematische Verhandlungs-Asymmetrie zu Lasten der Staaten mit den höchsten Beitragsverpflichtungen entstehen.
Neben einer Steuer auf nicht recyclierte Kunststoffabfälle („Plastiksteuer“), die als einzige der neuen Quellen bereits im Juli 2020 vorakkordiert wurde, geht es dabei um einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus und auf dem EU-Emissionshandelssystem EHS basierende Eigenmittel. Für Beides soll bis Mitte Mai 2021 ein konkreter Umsetzungsvorschlag vorliegen. Zum selben Zeitpunkt soll es konzeptionelle Klarheit über eine geplante Digitalsteuer geben.
Höchst unwahrscheinlich erscheint hingegen die in Folge des Brexit deutlich erschwerte Einführung einer – bei richtiger Konzeption durchaus zielführenden – Finanztransaktionssteuer. Auch für Eigenmittel auf Grundlage einer einheitlichen gesamteuropäischen Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage nimmt man sich erst für Mitte 2024 vor, ein Konzept vorzulegen.[19]
Sollte die erhoffte Einigung auf zusätzliche Steuerquellen nicht zustande kommen, wären die Mitgliedsstaaten jedenfalls verpflichtet, aus ihren Budgets für die zusätzlichen, gemeinschaftlichen Verpflichtungen aufzukommen – zuzüglich zu den Corona-bedingt ohnehin massiv ansteigenden Staatsschulden. In den vom Hilfspaket nur schwach bedachten Nettozahler-Staaten würde das beachtlichen politischen Erklärungsbedarf auslösen.
Durchbruch zur Fiskalunion oder einmaliger Sonderfall?
Die für den Wiederaufbaufonds der EU erforderlichen Mittel werden zur Gänze durch Gemeinschaftsanleihen aufgebracht. Von einigen ihrer Befürworter wird diese dem Vertrag von Maastricht in wesentlichen Bereichen widersprechende Finanzierungsform als einmalige, der Krise geschuldete Abweichung von der bisherigen Praxis eingestuft. Andere sehen darin trotz der ausdrücklichen vertraglichen Verankerung seines vorübergehenden, der Corona-bedingten Sondersituation geschuldeten Charakters einen ersten Durchbruch auf dem Weg zu einer künftigen Fiskalunion.
In seiner Grundsatzkritik verweist der Deutsche Bundesrechnungshof auf die Tatsache, dass auch andere, zunächst als einmalige und zeitlich begrenzt angesehene Instrumente zu Dauereinrichtungen geworden sind und nennt als prominentes Beispiel dafür den aus den provisorischen Schutzschirmen im Verlauf der Euro-Staatsschuldenkrise hervorgegangenen permanenten Rettungsschirm ESM. Es steht jedoch fest, dass eine Perpetuierung der gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme einer wiederum von allen Mitgliedsstaaten mitgetragenen Vertragsänderung bedürfte.
Die mit dem Wiederaufbaufonds einhergehenden Haftungsverpflichtungen der Teilnehmerstaaten stellen gegenüber den Gläubigern der gemeinschaftlich eingegangenen Schulden jedenfalls sicher, dass auch für den Fall, dass ein Mitgliedsstaat seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte, die übrigen Mitgliedsstaaten für dessen Anteil an den Rückzahlungsverpflichtungen einzustehen haben.
Mut zu neuen Verschuldungs-Regeln
Wie die quer durch Euroland in Folge der Corona-Folgekosten massiv anwachsenden Schuldenstände mittel- bis langfristig normalisiert werden können, wird erst seriös einzuschätzen sein, wenn das endgültige Ende der Pandemie absehbar ist. Dennoch kann die Diskussion über adaptierte, der vorherrschenden Zins- und Inflationslage angepasste Maßstäbe für künftige Verschuldungsgrenzen nicht früh genug beginnen, liegt doch der bisher als Obergrenze geltende, sechzigprozentige Anteil der Staatsschuld am jeweiligen Bruttosozialprodukt für die Mehrheit der Euro-Länder auf absehbare Zeit außer Reichweite.
Schon nach der Finanzkrise hat es sich als Fehler erwiesen, diesen vor drei Jahrzehnten unter ganz anderen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen fixierten Maßstab in dem bis heute geltenden, aber kaum mehr praktikablen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verankern. Die Orientierung an Defizit- und Schuldengrößen, die bei einbrechender Konjunktur ganz von selbst höhere Anteile an der gesunkenen Wirtschaftsleistung ausweisen, sagt nun einmal wenig über die Qualität der jeweiligen Verschuldung aus.
Immer klarer wird, dass realistisch adaptierte Stabilitätsregeln größere Spielräume für Zukunfts- und Infrastrukturinvestitionen vorsehen müssen. Die Fixierung auf ein Nettodefizit, bei dessen Zustandekommen zu wenig darauf geachtet wird, ob es aus strukturellen Gründen der laufenden Haushaltsgebarung entsteht oder auf die Investition in Zukunfts- und Infrastrukturprojekte zurückgeht, hat sich schon in den vergangenen Jahren als höchst nachteilig für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Infrastruktur erwiesen. Zugleich sollte jedoch außer Streit stehen, dass die Letztverantwortung für die Solidität der Staatshaushalte für die absehbare Zukunft weiterhin bei den Mitgliedsstaaten zu verbleiben hat.
Auf der Suche nach einem währungs- und fiskalpolitischen Zukunftskonzept
Nicht nur der Fiskalrahmen steht vor einer grundlegenden Überarbeitung – auch die Europäische Zentralbank steht nach mehr als einem Jahrzehnt im Krisenmodus vor Anpassungserfordernissen ihrer strategischen Ausrichtung. Niedrigstzinsen und großvolumige Anleihekaufprogramme sind als die sichtbarsten Instrumentarien unkonventioneller Notenbankpolitik längst zur Normalität geworden. Zugleich bezeugen sie die gegenseitige Abhängigkeit von Geld- und Fiskalpolitik.
Dennoch fehlt es bei der Begründung dieser Praxis an Offenheit. Das ausgeschilderte Ziel der Anleihekäufe sowie Niedrigzinsen, einerseits die Konjunktur zu stützen und andererseits eine Inflation von knapp unter zwei Prozent über den gesamten Euroraum erzielen zu wollen, ist nun einmal weniger glaubhaft als dass es bei den hohen Anleihekäufen in erster Linie um den Zusammenhalt des Euro geht und mit der damit einhergehenden Nullzinspolitik die Kosten der steigenden Staatsschulden in beherrschbaren Größenordnungen gehalten werden sollen. Auch wenn die offenkundig sachnotwendige Verfolgung dieser Ziele geltenden Spielregeln widerspricht, sollte das offensiv und konstruktiv diskutierbar sein.
Eine solche Diskussion müsste die erwünschten und unerwünschten Nebenwirkungen der Niedrigzinsen auf das Investitions- und Sparverhalten ebenso mit einschließen wie die verteilungspolitischen Folgen inflationärer Steigerungen von Immobilienpreisen und der Aufblähung von Aktienblasen. Die dauerhafte Verdrängung der eigentlichen, währungspolitischen Zweckrationalität der aktuellen Notenbankpolitik führt hingegen zu – vermeidbaren – Vertrauensschäden.
Die Balance zwischen fiskalischer Eigenverantwortung der Eurostaaten und einer Notenbank, die durch weitgehend unlimitierte Käufe von Staatsanleihen der Gemeinschaftswährung eine Bestandsgarantie zu verleihen sucht, kann ohne eine neue geld- und fiskalpolitische Aufgabenteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene nicht dauerhaft gehalten werden.
Die künftige Aufgabenteilung könnte gegenüber der bisherigen Finanzverfassung durchaus neue Spielräume eröffnen. So wären etwa zentrale Budgets für gesamteuropäische Projekte, die abseits der nationalen Haushalte finanziert werden, ein durchaus vertretbarer Schritt in Richtung Fiskalunion, ohne die Mitgliedsstaaten aus ihrer Eigenverantwortung zu entlassen.
Ergänzend dazu sollte der zwischenzeitlich aufgeschobene Plan neu aufgegriffen werden, den permanenten Stabilisierungsmechanismus ESM zu einem Europäischen Währungsfonds auszubauen.[20] Dieser hätte die vorrangige Aufgabe, die Mitgliedsstaaten entlang der reformierten Fiskalregeln bei der Reform ihrer Budgetstrukturen zu unterstützen.
Auch die Möglichkeit einer Entlastung aller europäischen Staatshaushalte durch Bündelung der Corona-bedingten Neuverschuldung in einer von der EZB angekauften Sondertranche zu Niedrigzinsen mit extrem langer Laufzeit wäre überlegenswert. In anderer Form findet eine solche teilweise Neutralisierung von krisenbedingten Sonderkosten ja bereits im Rahmen des neu geschaffenen Wiederaufbaufonds statt, der vorsieht, dass Rückzahlungsverpflichtungen der Mitgliedsstaaten deren Verschuldungsquoten nicht zugerechnet werden müssen.
Die Kernfrage einer glaubwürdigen Erneuerung der europäischen Finanzarchitektur lautet, wie es mit tauglichen Spielregeln gelingen kann, auch in Zukunft, trotz verstärkter Gemeinschaftsinitiativen, budgetpolitische Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten zu leben. Es stimmt zuversichtlich, dass sich nicht nur die Notenbank in einem Prozess der Strategieüberprüfung befindet, der im September 2021 zu einem vorläufigen Abschluss kommen soll. Auch die EU plant eine Zukunftskonferenz, die zu gemeinsamen Entscheidungen über die künftige Struktur der Entscheidungsprozesse und das gewünschte Zusammenspiel von Subsidiarität und Zentralität finden soll.
Es wird nicht einfach sein, auf die daraus hervorgehenden finanzpolitischen Fragen praktikable Antworten zu finden. Die engagierte Suche danach ist aber jedenfalls zielführender, als irreversible Weichenstellungen in Richtung einer Fiskalunion einfach „passieren“ zu lassen, wie das im Wege des EU-Wiederaufbaufonds angelegt ist.
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[1] Mario Draghi am 26. Juli 2012 in London: “Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“
[2] Der ESM beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten der Eurozone, d.h. er ist rechtlich unabhängig von der Europäischen Union. Bisher unterstützte Staaten sind Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern.
[3] PEPP: Pandemic Emergency Purchase Programme
[4] Der für über die Proportionalität der Anleihekäufe bestimmende Kapitelschlüssel bemisst sich nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl der Euro-Mitgliedsstaaten.
[5] Christine Lagarde, EZB-Mitteilung „Unsere Reaktion auf den Corona-Notfall“ vom 19.03.2020 https://www.ecb.europa.eu/press/blog/date/2020/html/ecb.blog200319~11f421e25e.de.html
[6] Mit Stand Ende Jänner 2021 lag lediglich ein einziger Vertragsabschluss über EUR 100 Mio vor
[7] EU-Sonderprogramm SURE: „Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency“; bis Ende Jänner 2021 wurden 90,3 Mrd. zugesagt bzw. davon 53,5 Mrd. an 15 EU-Staaten ausgezahlt.
[8] Coronavirus Response Investment Initiative (CRII)
[9] Der formelle Entschluss soll nach Beobachtung der bis dorthin eingetretenen fiskalischen Entwicklung im Mai 2021 fallen
[10] Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der Covid-19-Pandemie vom 28. Mai 2020, COM (2020) 441 final.
[11] Vgl. Presseaussendung des österreichischen Bundeskanzleramtes vom 19.06.2020, „Bundeskanzler Kurz: Paket zum Wiederaufbau darf kein Einstieg in die Schulden-Union sein“
[12] Die Einigung erfolgte nach mehreren außerordentlichen Tagungen des EU-Rates am 21.Juli 2020, EUCO 10/20
[13] Die dazu gehörende Verordnung ist seit 19. Februar 2021 in Kraft
[14] Mit Stand 12. März 2021 hatten neun Länder den Eigenmittelbeschluss ratifiziert: Bulgarien, Frankreich, Kroatien, Italien, Zypern, Malta, Portugal, Slowenien, Spanien. Vgl. ÖGfE Policy Brief 03/2021
[15] D.h. es erhalten jene Länder größere Zuschüsse, die niedrigere BIP-Werte pro Kopf aufweisen
[16] Vgl. Klaus-Heiner Lehne, Rede am 1.12.2020 vor dem Rat der Europäischen Union (Wirtschaft und Finanzen)anlässlich der Vorstellung des Jahresberichts des Europäischen Rechnungshofs
[17] Vgl. Bundesrechnungshof, Bericht zum Wiederaufbaufonds vom 11. März 2021
[18] Vgl. F.Dorn / C.Fuest, „Next Generation EU: Gibt es eine wirtschaftliche Begründung?“, sowie F.Heinemann, „Next Generation EU: 750 Milliarden suchen einen Sinn“, beides in ifo-Schnelldienst 2/2021
[19] Vgl. M.Schratzenstaller, „Corona-Aufbauplan – großes Potential zur Stärkung des Zusammenhalts in der EU“, ifo-Schnelldienst 2/2021
[20] Vgl. Konzept der EU-Kommission vom 6.12.2017