Europa in der Globalisierung

Gestärkt aus der Krise? - Das europäische Modell in der Gobalisierung

 

Beitrag zur GLOBART-Academy 2017, erschienen in „(UN)ORDNUNG – Was die Welt zusammenhält“, Verlag De Gruyter 2018

„Man müsste sehr undankbar sein, um die Vorzüge des Daseins in dieser Weltgegend zu leugnen. Wenn man schon den Nachteil, geboren zu sein, auf sich nehmen muss, dann doch am besten in diesem müden und attraktiven Europa“. Peter SLOTERDIJK

Wer an politische Wunder nicht glauben will, der kann sich mit einem Blick zurück in die jüngere Europäische Geschichte vom Gegenteil überzeugen. Nur sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, noch kaum vom Trauma der Zerstörung und Vertreibung erholt, entschieden sich die Kernländer Europas für Zusammenarbeit und supranationales Handeln anstelle eines neuerlichen innereuropäischen Wettrüstens. Der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) folgte bald darauf mit den Römischen Verträgen von 1957 die erste Ausbaustufe einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich erste Elemente einer politischen Union aneignete.

Als eine weitere Sternstunde Europas erwies sich der Fall des Eisernen Vorhangs. Von diesem bis kurz zuvor von niemandem ernsthaft erwarteten Ereignis gingen entscheidende Impulse für eine Neuordnung des europäischen Institutionengefüges aus. Die meisten Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ ergriffen nach 1989 die Chance, selbstbestimmte Mitglieder einer erweiterten Europäischen Union zu werden. In mehreren Reformen des europäischen Verfassungswerks versuchte man, den Erfordernissen dieser ständig mit der Gefahr einer Überdehnung verbundenen Erweiterung gerecht zu werden.

Wie optimistisch die Grundstimmung dieser Jahre war, zeigt der 1992 im Vertrag von Maastricht festgehaltene Beschluss, eine Gemeinschaftswährung zu schaffen. Auch wenn dabei das Bedürfnis, Deutschland durch die Aufgabe der eigenen Währung auch nach der Osterweiterung machtpolitisch in Zaum zu halten, eine Rolle gespielt haben mag: viel entscheidender war der Wille zur europäischen Einigung. Sämtliche Teilnehmerstaaten teilten die Erwartung einer durch die Gemeinschaftswährung begünstigten Konvergenz der europäischen Volkswirtschaften mit dem Resultat einer sich mit dem Lauf der Zeit weitgehend von selbst herausbildenden Fiskalunion („ever closer union“).

Nur mit diesem – wenn auch fernen – Zielfoto vor Augen war es verantwortbar, sich auf das wirtschaftsgeschichtlich einzigartige Großexperiment einer Gemeinschaftswährung einzulassen, deren Geldpolitik über eine gemeinsame Zentralbank gesteuert wird, während alle Budgetangelegenheiten bis auf weiteres in nationaler Verantwortung bleiben. Um die Funktionstüchtigkeit des gewagten Konstrukts sicherzustellen, schuf man mit den „Maastricht-Kriterien“ gemeinsame Spielregeln zur Sicherstellung der Budgetdisziplin.

Weiterer Rückenwind für die europäische Sache kam aus den neu entstandenen Chancen der Globalisierung. Als wären die Herausforderung der „Binnenglobalisierung“ – also der Auswirkungen des Binnenmarktes auf den innereuropäischen Wettbewerb – noch nicht groß genug, stellte man sich der Marktöffnung früherer Staatswirtschaften ohne Wenn und Aber.

Von der Finanzkrise zur Euro-Krise

Die Finanzkrise der Jahre 2007/8 unterbrach unsanft diese trotz zwischenzeitlicher Rückschläge insgesamt höchst eindrucksvolle europäische Erfolgsserie. Die Folgekosten von Bankenrettungen, Wachstumseinbruch und Konjunkturpaketen bewirkten in den Eurostaaten schockartig eine im Durchschnitt mehr als vierzigprozentige Steigerung der an der jeweiligen Wirtschaftsleistung gemessenen Staatsschuldenquote. Die Grenzwerte gemäß den Maastricht-Kriterien wurden damit faktisch ausgehebelt. Als dann zur Jahreswende 2009/10 die bis dahin geschönte Schuldensituation Griechenlands öffentlich wurde, stellte sich mit einem Mal die bis dahin absolut undenkbare Frage, ob nicht auch ein der Eurozone angehörender Staat bankrott werden kann. Es erwies sich als äußerst kostspielig, diese existentielle Fragestellung zunächst offen zu lassen.

Weil die dramatischen Folgen der Finanzkrise für den Euro im Drehbuch nicht vorgesehen waren, musste auf offener Welt-Bühne improvisiert werden, um durch die Schaffung von Rettungsschirmen und Nachbesserungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts das Auseinanderbrechen der Euro-Zone zu verhindern.

Eine besondere Schwierigkeit des Euroraums stellte dabei die überproportionale Bedeutung des Bankensystems für die öffentlichen Haushalte der jeweiligen Wohnsitzstaaten dar. Mit dem Entfall der Wechselkursrisiken waren die gegenseitigen Ausleihungen zwischen Banken und Staaten von Euroland massiv angestiegen. Da Europa jedoch im Unterschied zu den USA budgetpolitisch keinen einheitlichen Währungsraum darstellt und Probleme einzelner Banken den jeweiligen Wohnsitzstaaten zur Last fallen, entstand daraus ab Beginn der Eurokrise eine sich rasch verschärfende Bedrohungslage.[1] Da die Bonität einzelner Eurostaaten fraglich wurde und der dauerhafte Bestand der Eurozone nicht mehr gesichert schien, bestand mit einem mal höchste gegenseitige Ansteckungsgefahr: aus jeder versäumten Bankenrettung konnte eine Staatskrise werden – und umgekehrt aus jeder Staatskrise ein paneuropäisches Bankenproblem. Schon deshalb mussten die Mitgliedsstaaten ihre Großbanken durch Sanierungspakete vor dem Absturz bewahren. Auch die Notwendigkeit, eine Bankenunion zu schaffen – was 2014 glückte – gründet auf diesem Zusammenhang.

Die EZB entschied sich in dieser historischen Ausnahmesituation analog zur amerikanischen Notenbank FED für eine bis heute andauernde Nullzinspolitik in Kombination mit großvolumigen Anleihe-Kaufprogrammen. Mit ihren zum Teil durchaus umstrittenen Maßnahmen wurde sie zum Vertrauensanker für den Zusammenhalt der Gemeinschaftswährung und erkaufte damit jene Zeit, derer es bedurfte, um an dauerhaften Lösungen für die Eurozone zu arbeiten.[2] Auch wenn das Zusammenspiel von Realwirtschaft und Finanzwirtschaft nach wie vor gestört ist, lässt sich feststellen, dass das System insgesamt doch deutlich resilienter geworden ist. Ein dauerhafter positiver Ausblick für den Euro ist wieder absehbar, sofern es gelingt, den permanenten Rettungsschirm ESM zu einem Europäischen Währungsfonds auszubauen und das Bankensystem durch zusätzliche Stärkung der Eigenkapitalbasis krisenfest zu machen.

Einen weiteren, sichtbaren Bruch in der europäischen Erfolgsserie stellt der geplante Austritt Großbritanniens aus der europäischen Union dar. Mit dem „Brexit“ wurde die Vision einer „ever closer union“, die einst zu einem  europäischen Bundesstaat einschließlich Fiskalunion führen sollte, nicht nur in England abgewählt – sie wäre heute wohl in der Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer nicht mehrheitsfähig.

Der Austrittswunsch der zweitstärksten europäischen Volkswirtschaft führte jedoch im übrigen Europa zu keinen unmittelbaren Turbulenzen, da Großbritannien nicht Teil der Eurozone ist. Auch erweist sich die bisherige Verhandlungsstrategie der EU als konsequent und für die Kohärenz Europas insofern förderlich, als es gelungen ist, mit einer einheitlichen, gut kommunizierten Position des „do ut des“ aufzutreten. Dass es keinen „free lunch“ gibt und die Zugehörigkeit zum Binnenmarkt mit einer uneingeschränkten Wanderungsfreiheit einherzugehen hat, wurde dadurch auch den Bürgern jener Mitgliedsstaaten klar, die zunächst an ähnliche Schritte wie England gedacht haben mögen.

Ein drittes Sonderproblem, das indirekt wohl auch die Brexit-Entscheidung beeinflusst hat, stellt die als Folge einer seit Beginn des letzten Jahrzehnts grundlegend verfehlten Nahost- und Afrikapolitik entstandene Migrationskrise dar. Die Überforderung einzelner europäischer Mitgliedsstaaten, die völlig ungleiche Verteilung der Integrationsaufgaben und der damit verbundenen Folgekosten, die mangelnde Bereitschaft zu solidarischen Lösung und das Fehlen glaubwürdiger Strategien zur Verhinderung weiterer, unkontrollierter Flüchtlingsströme führten zu einer Vertrauenskrise in den europäischen Zusammenhalt.

Ein illusionsloser Blick auf künftige Optionen

In einer Zeit tiefer Verunsicherung über die Regierbarkeit unseres Kontinents muss es nun darum gehen, verloren gegangenes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europapolitik wieder herzustellen. Die europäische Unions-Idee ist noch immer attraktiv – aber ihre Ausstrahlung hat unter den Krisenfolgen gelitten. Die Zeit, in der Europa mit der Dynamik ständiger Erweiterungen die Frage nach den tatsächlichen Kern-Inhalten seines politischen Handelns verdrängen konnte, ist vorbei. Frühere Baumeister der EU wie Jacques Delors konnten in krisenhaften Situationen noch mit dem Bild vom europäischen Fahrrad vertrösten, das in Schwung bleiben muss, wenn es nicht umfallen soll. Heute beruhigt das niemanden mehr. Denn solange die Richtung nicht klar ist, steigt man besser vom Fahrrad ab und orientiert sich neu.

Jene fünf Optionen für die politische Zukunft Europas, die von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Frühjahr 2017 präsentiert wurden, zeigen jedenfalls, dass dies auch den Verantwortlichen der europäischen Institutionen durchaus bewusst ist: von „Weitermachen wie bisher“ – „Verschiedene Geschwindigkeiten“ – „Weniger, aber das besser“ über „Binnenmarkt und sonst nichts“ bis zur ursprünglichen Vision „Vereinigte Staaten von Europa“ reicht der erstaunlich illusionslose Blick auf eine neue politische Wirklichkeit.

Allerdings entsteht aus der Befassung mit diesen Wahlmöglichkeiten noch kein neuer innerer Zusammenhalt des Kontinents. Über die Entscheidung hinaus, welche Richtung an den aufgezeigten Wegkreuzungen einzuschlagen wäre, bedarf es nämlich auch einer Vergewisserung über die Grundsätze des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Die Notwendigkeit zu einer solchen Rück-Versicherung ergibt sich vor allem aus der Gegenüberstellung zu mit uns im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaftsstilen.

Der ohnehin durch die Globalisierung beschleunigte Wandel wird durch die Digitalisierungs-Technologien weiter vorangetrieben und stellt traditionelle Wachstums- und Wohlstandserwartungen in Frage. Eine neue internationale Arbeitsteilung entwickelt ihre Dynamik in einem weitgehend regellosen Raum. Mitbewerber aus Ländern mit völlig unterschiedlichen Startvoraussetzungen kämpfen in der globalen Kostenkonkurrenz mit ungleichen Waffen. Sozial und ökologisch verantwortete Formen der Produktion geraten dabei unter Druck.

Das europäische Wirtschaftsmodell einer sozial und ökologisch verantworteten Marktwirtschaft bedarf deshalb unter den Bedingungen der Globalisierung einer grundlegenden Erneuerung, wenn die Wertegemeinschaft nicht zu einer inhaltsleeren Besitzgemeinschaft (© Peter Rosei) verkümmern soll. Die Fragestellung lautet, wie wir das europäische Projekt so organisieren können, dass es mit Blick auf Wertschöpfung, soziale Sicherheit und ökologische Qualität wieder als eine Sache wahrgenommen wird, die der gemeinsamen Anstrengung wert ist.

Orientierung an gemeinsamen Werte

Es lohnt sich, daran zu erinnern, wie entscheidend die Anfänge der europäischen Einigung von außer-ökonomischen, philosophisch und religiös inspirierten Werte-Quellen gespeist wurden. So verdankte sich das nahezu all-parteiliche Ringen um eine europäische Friedensordnung bekanntlich auch hervorragenden Exponenten aus humanistisch-christlicher Tradition. Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer waren Mitbegründer einer weltanschaulichen Ökumene der europäischen Versöhnung über Parteigrenzen hinweg. Die Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität finden sich in ihr vereint mit Liberalität und verfassungsrechtlicher Säkularität.

In Verbindung damit entstand ein Wirtschafts- und Sozialmodell, das bis heute für Kontinentaleuropa und die nordeuropäischen Staaten prägend ist. Egal, ob es als „(Öko-)Soziale Marktwirtschaft“ oder „rheinischer Kapitalismus“ beschrieben wird: immer geht es – bei allen Akzentunterschieden in Details – um einen leistungsstarken Sozialstaat, um die Kombination von wirtschaftlicher Effizienz und sozialem Ausgleich. Dass diese ordnungspolitische Grundierung in der großen Zahl der EU-Mitgliedsstaaten unbestritten ist, gibt Europa ein durchaus eigenständiges Profil.

Die erfolgreiche europäische Wirtschaftsordnung entstand nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Suche nach einem bewusst eigenständigen Weg zwischen dem gescheiterten Laisser-faire-Liberalismus der Dreißigerjahre und dem Versagen der Planwirtschaften. Niemand hätte in den Entstehungsjahren der Sozialen Marktwirtschaft die politische Kernverantwortung des Staates verleugnet, für die Rahmenbedingungen verantwortlich zu sein, unter denen Wettbewerbswirtschaft sozialverträglich funktioniert.

Wie stark sich dieses Grundverständnis über das Funktionieren eines Staatsganzen von jenem der USA unterscheidet, wird uns erst wieder bewusst, seit wir Zeitzeugen eines in Europa nicht denkbaren Feldzuges gegen Kernelemente des Sozialstaates sind, wie etwa dem Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung und Bildung. Während die amerikanische Gesellschaft in diesen Fragen tief gespalten ist und der Grundkonsens darüber, wohin sich das Land entwickeln soll, erodiert, herrscht in Europa – bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Ausprägung – weitgehende Übereinstimmung über die Eckpfeiler moderner, durch dynamische Marktwirtschaften getragener Sozialstaaten.

Wohl entschieden sich die 2004 der EU beigetretenen Länder des ehemaligen „Ostblocks“ nach 1989 für den größtmöglichen Abstand von der Staatswirtschaft, die sie jahrzehntelang in Unfreiheit, Ineffizienz und – als wohl nur schwachen Trost – in einer erzwungenen Gleichheit der Lebensumstände gehalten hatte. Václav Klaus, Anfang der Neunzigerjahre tschechoslowakischer Finanzminister, deklarierte sich in diesem Sinn frühzeitig für eine „Marktwirtschaft ohne Vorzeichen“. Auch Polen orientierte sich – auch aus historischen Gründen – von Beginn an am anglo-amerikanischen Modell. Dennoch wurden auch in den neuen Marktwirtschaften Mittel- und Südeuropas die wesentlichen Merkmale des europäischen Modells wirksam. Dies verdankt sich vor allem der Übernahme des spezifisch europäischen, demokratisch-marktwirtschaftliche Normensystems durch die neuen Mitgliedsländer des ehemaligen „Ostblocks“ als Voraussetzung für den Beitritt zur Europäischen Union.

Dass es einen breiten, gesamteuropäischen Konsens über ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gibt, dem sich parteiübergreifend große Mehrheiten der Bevölkerung anschließen können, ist von nicht zu unterschätzendem Wert. Auf diesem Sozialkapital der Gemeinsamkeiten aufbauend ließen sich auch in anderen Bereichen – von der Handelspolitik bis zur Außenpolitik – endlich eigenständigere europäische Positionen entwickeln.

Allerdings ist ein derartiges Modell – wie die gesamte europäische Vision – kein Selbstläufer. Wenn es nicht zum bloßen politischen Weltkulturerbe verkommen soll, bedarf es der ständigen Sauerstoffzufuhr durch Gedanken-Impulse und weiterführende Reform-Konzepte. Um dauerhaft erfolgreich zu sein, muss ein Wirtschaftssystem neben der materiellen Wertschöpfung nämlich auch „Sinn machen“ und als gesamtgesellschaftlich wertvoll erlebbar sein. Fehlt dieses Element, geht der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren. Dann liegen die Grenzen des Wachstums nicht mehr nur in der Limitierung der materiellen Ressourcen, sondern in den Grenzen des Vertrauens in ein allzu einseitig auf Kapitalinteressen fixiertes Bild von Marktwirtschaft. Am Ende besteht die Gefahr, dass berechtigte Kritik an einzelnen Fehlentwicklungen in fundamentale Kritik an der Marktwirtschaft als solcher kippt.

Die Wiederentdeckung von Ordnungspolitik

Am Beginn einer Neukonzeption des europäischen Modells unter den Bedingungen der Globalisierung muss die Wiederentdeckung der über lange Zeit vernachlässigten Ordnungspolitik stehen. Gemeint ist das Bemühen, ein marktwirtschaftliches System mit einem Maximum an freier Entfaltung seiner Bürger so in politisch klug gestaltete Rahmenbedingungen einzubinden, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen unter Berücksichtigung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit so groß wie möglich ausfällt.

Als nach dem Fall des Eisernen Vorhanges fast die Hälfte der Weltbevölkerung erstmals in marktwirtschaftliche Systeme aufbrach, wurde dieses Bemühen vernachlässigt, herrschte doch über einige Jahre die Illusion, wir befänden uns nicht nur am „Ende der Geschichte“[3] sondern gleich auch am Ende des Wettbewerbs zwischen  konkurrierenden wirtschaftspolitischen Systemen.

An dessen Stelle ist jedoch ein globaler Wettbewerb der Wirtschaftsstile getreten, der über die traditionelle Unterscheidung zwischen dem angloamerikanisch-marktpuristischen Weg und dem kontinentaleuropäischen, von wohlfahrtsstaatlichen Traditionen geprägten Weg weit hinausgeht. Varianten von Marktmodellen, die ohne Demokratie auskommen und Spielarten eines autoritären Kapitalismus finden sich von Singapur über den kapitalistischen Einparteien-Absolutismus Chinas und feudal-marktwirtschaftliche Systeme des arabischen Raums bis zu den oligarchischen Regimen mancher rohstoffreicher Länder.

Überdies bringen uns die drei G´s der Globalisierung – Grenzenlosigkeit, Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit – in unauflösliche Vernetzungen und arbeitsteilige Abhängigkeiten zwischen den traditionellen und den neuen wirtschaftlichen Kraftzonen der Welt. Aber die Erfolge dieser Arbeitsteilung kommen trotz steigenden Massenwohlstands in vielen der neuen Marktwirtschaften noch viel zu wenigen Menschen zugute.

Wenn wir vermeiden wollen, dass das Fehlen eines schlüssigen Konzeptes für eine globale Wirtschaftsordnung zu einer schleichenden Legitimationskrise der Marktwirtschaft und einem Rückfall in protektionistische Reflexe führen, müssen wir deshalb die ordnungspolitische Erneuerung ernst nehmen. Der erste Schritt dorthin führt über die Emanzipation Europas gegenüber dem allzu lang unkritisch kopierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der USA.

Mit dem europäischen Wirtschaftsstil verbindet sich die systemische Sicht einer Marktwirtschaft, die als Instrument einer Gesellschaft, nicht jedoch als Selbstzweck gesehen wird. Weil diese Sichtweise für alle Ebenen der Ökonomie gilt, ist ein verlässlicher Ordnungsrahmen für verantwortete Marktwirtschaft nicht nur auf der europäischen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Global-Ökonomie gefragt. Die 2015 veröffentlichten, mittlerweile bereits von 197 Staaten unterzeichneten „Sustainable Development Goals“ zeigen die wesentlichen Konturen eines solchen Handlungsrahmens auf.

Die Verbindung von hocheffizienter Marktwirtschaft, sozialer Stabilität und persönlicher Freiheit, wie wir sie in den Marktwirtschaften europäischen Zuschnitts lange genießen durften, wären ohne eine ordnungspolitische Erneuerung gefährdet. Es lohnt sich deshalb, die Konturen dieses Modells stärker herauszuarbeiten und seine wichtigsten Elemente auch in die Diskussion über neue globale Spielregeln einzubringen. So kann Europa seine Chance wahren, gestärkt aus der Krise hervorzugehen

[1] Mervin King, ehemaliger Gouverneur der Bank of England, meinte dazu treffend: „Banks are global in life, but national in death“

[2] Von insgesamt fünf Euro-Staaten, die gegen strenge Auflagen Sondermittel aus den Rettungsschirmen erhalten haben, sind mittlerweile vier (nämlich Irland, Spanien, Portugal und Zypern) wieder in der Lage, ihre Anschlussfinanzierungen von den Finanzmärkten selbst zu organisieren. Zuletzt konnte auch Griechenland im Sommer 2017 auf dem Weg zurück in die finanzpolitische Selbständigkeit erste Anleihen international platzieren.

[3] Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte (1992)

download

Zurück zur Übersichtsseite