Gastbeitrag für Die Presse, 21.10.2024
Seit 2020 beeinflussten externe Schocks Österreichs Wirtschaft massiv. Wir sollten uns für den nächsten Sturm rüsten.
Nach dem Wahlkampf mit seiner oft einseitig auf Abwertung der politischen Mitbewerber zielenden Rhetorik hatte man wohl auf eine neue Sachlichkeit gehofft. Nichtsdestotrotz wurden wir tagelang mit der Frage beschäftigt, ob der Finanzminister nicht schon vor der Wahl am 29. September die Zahlen aus der Herbstprognose des Wirtschaftsforschungsinstitutes Wifo hätte verwenden sollen – obwohl diese, kalendarisch bedingt, seit jeher erst Anfang Oktober veröffentlicht wird. Faktum ist, dass das daraus abzuleitende Wachstum des Nettodefizits für 2024 mit 3,4 Prozent deutlich größer ausfällt als die ursprünglich angepeilten, gerade noch Maastricht-konformen drei Prozent. Fiskalratspräsident Christoph Badelt, der davor schon im Sommer gewarnt hatte, erwartet zum Jahresende sogar einen noch höheren Wert.
Unbestreitbar erwächst daraus ein beachtlicher Reformbedarf. Wer immer in den nächsten Wochen an den Koalitionsverhandlungen teilnimmt, sollte sich schon allein deshalb bei der Diskussion zu einem kommenden Maßnahmenpaket an Fakten orientieren, statt am bisherigen Modus der Suche nach Schuldigen festzuhalten.
Die Covid-Bombe
Denn zweifellos standen gerade die vergangenen fünf Jahre im Zeichen unvorhersehbarer, externer Schocks, die das Wachstum und die Preislandschaft unserer Wirtschaft massiv beeinflussten. Immerhin war es 2019, nach mehrjähriger Aufarbeitung der Folgekosten der Finanz- und Eurokrise, gelungen, ohne zusätzliches Budgetdefizit auszukommen und die Gesamtverschuldung auf knapp über 70 Prozent des Bruttosozialprodukts zu senken. Bei „normalem“ Wirtschaftsverlauf – so übereinstimmend die Forscher-Prognosen von damals – wäre bereits wenige Jahre später eine Senkung dieser Schuldenquote unter die von Maastricht bedungene Grenze von 60 Prozent in Aussicht gestanden. Doch so sollte es nicht sein, schlug doch 2020 die Covid-Bombe ein, verbunden mit einem massiven Wachstumseinbruch und unvorhersehbar hohen Folgekosten einer improvisierten Schadensbeseitigung, von der wir heute wissen, dass sie in vielen Bereichen übers Ziel schoss.
Zweifellos bestand mit Auslaufen der Covid-Krise die Ambition, die Situation rasch zu konsolidieren. Dabei wurde die Rechnung aber ohne die Ende Februar 2022 vom Überfall Russlands auf die Ukraine ausgelöste Wachstumsbremse gemacht. Die damit einhergehende Energie- und Lieferkettenkrise führte zu unvorhersehbar drastischen Preissteigerungen. Dabei hatte es noch im Herbst 2021 nach preispolitischer Konsolidierung ausgesehen, was die Notenbanken dazu veranlasste, wohl deutlich zu lang auf ihrer Nullzinspolitik zu beharren. Als die EZB im Herbst 2022 die Zinsschraube schmerzhaft schnell anzog, hatte das erst recht massiv wachstumsdämpfende Folgen.
Dass im selben Jahr die lang herbeigewünschte Abschaffung der kalten Progression umgesetzt wurde, erwies sich später als fatale Koinzidenz. Denn gerade in einem Jahr drastisch gestiegener Preise und entsprechender – im globalen Vergleich weit überproportionaler – Lohnerhöhungen sowie extrem großzügiger Anhebungen der Gehälter im öffentlichen Dienst erwies sich diese Maßnahme als budgetär höchst nachteilig. Wer aber wollte mit dem Wissen von heute dem Finanzminister vorwerfen, dieses Vorhaben endlich umgesetzt zu haben? Nun gehören auch die Folgekosten zu den Budgetthemen, an denen vordringlich gearbeitet werden muss.
Noch vordringlicher sind jene von beinahe allen politischen Parteien verdrängten Bereiche, in denen ergiebige Sparpotenziale verwirklichbar wären, wenn sie nur mit der erforderlichen Ehrlichkeit angegangen würden: von der überfälligen Pensionsreform durch Anpassung des tatsächlichen wie auch schrittweise des gesetzlichen Pensionsalters über eine Verwaltungsreform bis zu einer an den seinerzeitigen Verfassungskonvent anknüpfenden Föderalismusreform.
Auch ich bin ein Anhänger des Subsidiaritätsprinzips – aber das kann keine Ausrede für gemeinde-, bezirks- und landespolitische Eigenbröteleien in überbordenden Apparaten sein, welche sich, die eigenen Jobs sichernd, gegenseitig im Weg stehen. Zuletzt wurde das anlässlich der Diskussion über stark unterschiedliche Abgeltungen von Hochwasserschäden deutlich.
Inmitten einer gesamteuropäisch getrübten Stimmungslage wird es auch wichtig sein, bezüglich der Einschätzung der Verbesserungspotenziale mehr Zuversicht zuzulassen als bisher. Bleibt die Stimmung dauerhaft schlechter als die Lage, führt das nur zu einer unnötigen Verlängerung der eingetrübten Konjunktur.
Pragmatischere Politik
Die budgetäre Wahrheit ist uns allen zumutbar, ebenso die Bereitschaft, sachgerechte Reformen mitzutragen. Voraussetzung ist, dass wir uns von einer mit Schuldzuweisungen durchwirkten Krisenrhetorik verabschieden und ernsthaft nach allparteilichen Lösungen suchen. So wie das den nördlichen Staaten Europas immer wieder gelingt, von deren offensichtlich pragmatischerer politischen Kultur wir uns einiges abschauen könnten.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen konjunkturelle Verläufe modellhaft vorausberechnet werden können, wie das bis heute an den Wirtschaftsfakultäten gelehrt wird. Die neue Ökonomie spielt sich unter Bedingungen der Nicht-Vorhersehbarkeit ab. Geopolitisch, klimapolitisch, handelspolitisch, gesundheitspolitisch: Aus all diesen Feldern kann der nächste Sturm kommen. Wir sollten uns dagegen mit Realitätssinn und Bereitschaft zur Kooperation rüsten.