Plenarreferat Europäisches Forum Alpbach 2003, publiziert im Tagungsband „Kontinuitäten und Brüche
Als „Milleniums-Boom“ ist uns jener spektakuläre Höhenflug an den Börsen in Erinnerung, der keine Grenzen zu haben schien, weder der Höhe noch der Zeit nach. Um die Heißluftballon-Reise ins sagenumwobene Reich einer „New Economy“ zu geniessen, genügte es, einfach die Sandsäcke konventioneller Unternehmensbewertungen, historischer Kurs-Gewinn-Verhältnisse und sonstigen Erfahrungs-Ballast abzuwerfen. Wer noch skeptisch war und den Versprechungen der Analysten nicht blind vertraute, konnte sich von seriösen Wissenschaftern beruhigende Informationen holen.
MIT-Ökonom Rüdiger Dornbusch formulierte im Juni 1998 im „Wallstreet Journal“ die damalige Mainstream-Meinung: „The U.S.economy likely will not see a recession for years to come. We don´t want one, we don´t need one, and, as we have the tools to keep the current expansion going, we won´t have one. This expansion will run forever“. Eine derart ausgeprägte Machbarkeits-Phantasie war bestenfalls noch aus der Hochkonjunktur keynesianischer Global-Steuerungsansprüche der Siebzigerjahre in Erinnerung.
Letztlich kam es zur unvermeidlicherweise unsanften Landung des spekulativ überhitzten Kurs-Ballons. Die Erosion der Unternehmenswerte in den Büchern der (Pensions-)Fonds, der Banken und aller anderen institutionellen wie privaten Anleger ist mehr als drei Jahre nach Beginn der Sturzlandung noch nicht zur Gänze ausgestanden. Überkapazitäten und der stärker gewordene Wettbewerbsdruck aus den Emerging Markets werden überdies zu einer lange andauernden konjunkturellen „Seitwärtsbewegung“ führen. Der Heißluft-Vorrat reicht wohl auf absehbare Zeit nicht mehr für Höhenflüge.
Robert Shiller war einer der wenigen Nationalökonomen, der der Euphorie der New Economy widerstanden hatte und – in Buchform allerdings auch erst zu Beginn des Jahres 2000 – vor den Folgen einer „irrational exuberance“ warnte. Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank, sprach von einer irrationalen Übertreibung erstaunlicherweise schon Ende 1996, bei einem Dow Jones von 6400, also lange bevor dessen Höchststand im Frühjahr 2000 bei über 11300 erreicht wurde. In Österreich publizierte immerhin schon im Mai 1999 der Föhrenbergkreis, eine Vordenker-Runde der Industriellenvereinigung, eine eindrückliche Warnung vor den Träumen der Finanzwirtschaft und ihren Folgen.
Traditionelle Unterschiede zwischen Bank- und Kapitalmarktorientierung
Es ist der geschilderte Hintergrund der aktuellen Kapitalmarktentwicklungen, vor dem wir uns die Frage zu stellen haben, ob es denn einen „Clash of Cultures“, einen Zusammenprall der Finanzierungskulturen, zwischen den USA und Europa gibt. Als Ausgangspunkt lohnt sich ein Blick auf die Unterschiedlichkeit der Finanzierungskulturen, gemessen an der jeweiligen Art der Intermediation von Geld und Kapital zwischen Anlegern und Investoren.
In bank- und kreditorientierten Finanzsystemen läuft die Intermediation – in stark vereinfachter Darstellung – so, daß Banken Spargelder mit unterschiedlicher Veranlagungsdauer hereinnehmen, um daraus über die Bündelung von Volumina sowie die Transformation von Fristen und Risiken, Kredite für Unternehmen und Haushalte zu machen. In kapitalmarktorientierten Systemen hingegen funktioniert Intermediation über Kapitalmarktprodukte – wie Aktien und Anleihen – , welche von Anlegern gezeichnet werden und dem Emittenten Mittel in ganz bestimmter Laufzeit und Qualität zur Verfügung stellen.
Kontinentaleuropäische Finanzierungssysteme sind im wesentlichen bankorientiert. Die aggregierte Bilanz einer fiktiven „Bank Europa“ enthält deshalb auf ihrer Aktivseite mehr als 70% der Ausleihungen in Form von Krediten, während die vergleichbare Größenordnung der „Bank USA“ nur weniger als 40% beträgt.
Der Vorteil kapitalmarktorientierter Systeme liegt darin, daß sie Unternehmen bei der Aufbringung von Eigenkapital etwa über Aktienemissionen unterstützen können, was in Kombination mit vorbörslichen Risiko-Kapitalmärkten für Venture Capital und Private Equity die Gewähr bietet, daß Firmen in der Regel ausreichend mit Expansionskapital versorgt werden. Es gibt eine Fülle empirischer Evidenz dafür, daß aus eben diesem Grund Standorte mit funktionierenden Kapitalmärkten gründungs- und innovationsfreundlicher sind, und daher auch eine weitaus größere Arbeitsmarkt-Dynamik aufweisen.
Funktionierende Kapitalmärkte sind für die Mobilisierung von Risikokapital aber auch deshalb unentbehrlich, weil immer kürzer werdende Technologie-Zyklen einen hohen Druck in Richtung Forschungsintensität und rascher Marktdurchdringung auslösen. Darüberhinaus führt die weltweite Öffnung neuer Märkte zu vermehrten Investitionserfordernissen an neuen Standorten.
Daß die USA ebenso wie Großbritannien über eine lange Kapitalmarkttradition verfügen, hat mit der innerkontinentalen (USA) und transkontinentalen (England) Geschichte kolonialer Eroberungen zu tun, die von einem entsprechend hohen Kapitalbedarf für neue Infrastrukturen und Unternehmensgründungen begleitet war. Kontinentaleuropa hingegen ist durch eine Tradition von über Jahrhunderte hinweg gewachsenen kaufmännischen Kulturen auf regionalen Handels- und Bankplätzen in verhältnismäßig kleinen, nationalen Währungsräumen gekennzeichnet und hat von daher immer noch einen hohen Aufholbedarf.
Die Aufholjagd verläuft – trotz der mit der Kapitalmarktkrise verbundenen Rückschläge – durchaus erfolgreich, insbesondere seit mit dem Euro als Gemeinschaftswährung die historische Chance und notwendige Voraussetzung zum Entstehen eines leistungsfähigen gesamteuropäischen Kapitalmarktes geschaffen wurde. Schon ist der europäische Anleihenmarkt, gemessen an den Emissionsvolumina, bedeutsamer als jener der USA – wenn auch in Europa im US-Vergleich die Gewichtung der Staatsanleihen gegenüber den Unternehmensanleihen noch überproportional hoch ist.
Der Euro-Aktienmarkt ist, gemessen an der Marktkapitalisierung, mit einigem Abstand zu den USA der zweitstärkste der Welt. Allerdings hat es sich im Risikokapitalbereich als fatale Koinzidenz erwiesen, daß die gerade leistungsfähiger werdenden Euro-Börsen vom Ende des Milleniums-Booms und vom Platzen der New-Economy-Illusion besonders arg getroffen wurden. Besonders deutlich ist das am Schliessen des Neuen Marktes an der Frankfurter Börse erkennbar, der noch vor wenigen Jahren ein absolutes Hoffnungssegment darstellte.
Der Euro beschleunigt die Systemkonvergenz
Insgesamt öffnet sich das europäische Banksystem konsequent dem Kapitalmarktsystem, indem es sich dessen Instrumente vollends aneignet und das gesamte Spektrum der Produkte für Anleger wie Investoren erschließt. Der Euro-Kapitalmarkt ermöglicht die Anwendbarkeit aller derivativen Produkte zur Absicherung von Risiken ebenso wie der sogenannten synthetischen Wertpapierprodukte (Asset Backed Securities – ABS), in denen ganze Portfolios an Ausleihungen unterschiedlicher Laufzeit und Risikoqualität gebündelt werden. Dem Veranlagungshunger der Investmentfonds wird damit genügend Nahrung und Abwechslung geboten und Risiken können so breit wie noch nie in den Nicht-Banken-Bereich gestreut werden. Letztlich wird damit die traditionelle Bank zur „Kapitalmarktbank“.
Die vom Euro dynamisierte Systemkonvergenz der bankorientierten und kapitalmarktorientierten Finanzierungskultur(en) ist damit irreversibel. Sie wird durch die Handelbarkeit von gerateten (d.h. nach Risikoklassen eingestuften) Kredit-Risiken noch verstärkt. Das seit Jahren vorbereitete Regelwerk von „Basel II“, bei dem es vor allem um neue, gegenüber der gängigen Praxis differenziertere Vorschriften für die Eigenmittelunterlegung von Bank-Ausleihungen unterschiedlicher Risikoqualität geht, wirkt hier wie ein Katalysator. Die Risiko-Sichtweisen der Banken, welche in Zukunft bankinterne Ratings zu erstellen haben, gleichen sich damit jenen der Kapitalmärkte immer mehr an. Nicht zuletzt sind die Banken selbst, wenn es um ihre eigene Mittelbeschaffung (Refinanzierung) geht, Gegenstand der Durchleuchtung durch Rating-Agenturen, die sich ein genaues Bild vom Risikoprofil des Kreditportfolios machen. Ratings als Risiko-Marktsprache gewinnen demnach laufend an Bedeutung.
Die drei führenden Rating-Agenturen der Welt festigen dabei ihre oligopolartige Marktstellung. Die Frage, wie wir künftig regulatorisch damit umgehen wollen, daß ihnen damit nicht nur weitgehende Preis-Durchsetzungsmacht zukommt, sondern auch ein letztinstanzlicher, maßgeblicher Einfluß auf die Standards der Finanzindustrie, wurde bisher im übrigen noch nicht ernsthaft gestellt.
Die Konvergenz der bankorientierten und der kapitalmarktorientierten Finanzierungskulturen wird auch durch Entwicklungen in den USA beschleunigt, wo nach Aufhebung der nach der Weltwirtschaftskrise verfügten strikten Trennung von Investmentbanken und Kreditbanken ebenfalls immer stärker Universalbanken- oder Allfinanz-ähnliche Misch-Strukturen entstehen.
Offensichtlich kommt es also beim Aufeinandertreffen der ausgeprägt bankorientierten Finanzierungskulturen Kontinentaleuropas mit den hochentwickelten Kapitalmärkten der USA und Großbritanniens nicht zum Zusammenprall, sondern zu gegenseitigen Einflüssen und einer kontinuierlichen Anreicherung des traditionellen Banksystems mit Kapitalmarktelementen. Auch in den neuen Marktwirtschaften unserer europäischen Nachbarn in Zentral- und Südeuropa ist ja die Finanzsprache englisch, weil auch die Instrumente und das Vertragsrecht aus der anglo-amerikanischen Finanzierungskultur übernommen werden.
Konfliktstoff in amerikanischen Kapitalmarkt-Spielregeln
Dennoch ist damit die Frage nach dem „Clash of cultures“ noch nicht befriedigend beantwortet. Strittig ist ja nicht die finanztechnische Benutzeroberfläche – sie wird ganz unbestritten über kurz oder lang für alle Marktteilnehmer gleich sein – sondern die anglo-amerikanische Kapitalmarktpraxis nach im hinter uns liegenden „Jahrzehnt der Übertreibung“ immer exzentrischer gewordenen Spielregeln. Zu fragen ist daher, in welchen konkreten Bereichen sich die amerikanischen Kapitalmarktspielregeln der Neunzigerjahre in eine Richtung entwickelt haben, die systematisch von guten Kapitalmarktpraktiken wegführt und deshalb mit den finanzmarktpolitischen und unternehmerischen Traditionen nicht nur der meisten europäischen Länder, sondern letztlich auch der USA selbst, in Konflikt gerät.
Beginnen wir mit der Bilanzierungspraxis. Die Regeln der in den USA geforderten Jahresabschlüsse nach US-GAAP haben sich in der Folge der Diskussion um den Enron-Skandal als extrem mißbrauchsanfällig erwiesen. Mehr als 140 börsennotierte Unternehmen haben mittlerweile Verfahren gegen sich laufen, in denen es um die Richtigstellung von Bilanzierungsansätzen geht. Offensichtlich verleiten die geltenden Regeln in vielen Fällen zu gestalterischen Grenzgängen, die solange den Applaus der Anleger und der Analysten gefunden haben, solange im allgemeinen Boom damit Kurssteigerungen zu erzielen waren. Dieser grundlegende Mißstand kann wohl durch eine ad-hoc-Gesetzgebung, wie sie mit dem die Führungskräfte zu Bilanz-Eiden zwingenden Sarbane-Oxley-Act geschaffen wurde, keinesfalls saniert werden.
Das Verlangen der US-Finanzmarktaufsicht, alle in den USA notierenden Unternehmen – auch die europäischen – hätten eine Bilanzierung nach den Prinzipien des US-GAAP–Standards aufzuweisen, scheint vor dem Hintergrund dessen offensichtlicher Systemschwächen doch deutlich überzogen. Die angebliche Anlegerfreundlichkeit von US-GAAP gegenüber der traditionell (Banken-)gläubigerorientierten Bilanzpraxis in Europa hat sich jedenfalls als Illusion erwiesen. Am Ende haben vielfach Gläubiger und Anleger ihr Geld verloren.
Ein zweiter Konfliktpunkt liegt in der Corporate Governance, also der richtigen Balance zwischen den an einem Unternehmen interessierten Parteien. Die von vielen unkritisch übernommene These, die in vielen Ländern Europas übliche Zweistufigkeit der Entscheidungsorgane (Aufsichtsrat versus Geschäftsführung bzw. Vorstand) sei dem in den USA üblichen One-Board-System, in dem nicht für das Tagesgeschäft verantwortliche Board-Members gleichzeitig Aufsichtsfunktionen wahrnehmen, unterlegen, hat sich als nicht haltbar herausgestellt. Fehlleistungen sind in beiden Systemen ebenso möglich wie Höchstleistungen.
Während die Anhänger einer US-amerikanischen Kapitalmarkt-Sicht den Aufsichtsrat im Rahmen einer zweistufigen Struktur als einen unerwünschten Puffer gegen die Durchsetzung von Aktionärsinteressen interpretieren, hat die Wirklichkeit gezeigt, daß Aufsichtsräte einen Schutz gegen die gerade im One-Board-System vielfach in Selbstbedienung ausartenden Honorierungssysteme von Manager-Leistungen, insbesondere über Stock-Options, waren.
Stock-options sind bis heute nicht obligatorisch in den Bilanzen amerikanischer Unternehmen berücksichtigt. Ihre Ausprägung war in vielen Fällen für die Aktionäre undurchschaubar. Diese schlechte Praxis mit ihren krassen Übertreibungen wurde solange toleriert, als die steilen Kursanstiege anhielten und wird erst seit kurzem ernsthaft in Frage gestellt. Dazu kommt die Unverträglichkeit der extremen Saläre mit dem kulturell akzeptierten Maß von Ungleichheit. Immerhin gab es in den USA beim Vielfachen des CEO-Gehalts eines durchschnittlichen Top-100-Unternehmens gegenüber dem Gehalt des einfachsten Beschäftigten einen Sprung vom etwa 40-fachen zu Anfang der Neunzigerjahre auf mehr als das 300-fache heute.
Die Rating-Agentur Standard&Poors hat ermittelt, wie dramatisch sich die Einbeziehung der stock-option-Ansprüche von Führungskräften auf die Bilanzen der S&P-500-Unternehmen auswirkt: Korrigiert man die veröffentlichten Bilanzen entsprechend, und ergänzt man diese Korrekturen mit den ebenfalls unzureichend ausgewiesenen Pensionsverpflichtungen, so ergeben diese „core earnings“ eine Minderung der offiziell ausgewiesenen Gewinne um mehr als 25 Prozent. Um den gleichen Faktor müssen demnach die jeweils ausgewiesenen KGV´s und korrespondierenden Börsenkurse korrigiert werden.
Einen weiteren strittigen Bereich stellt die Rolle der Finanzanalysten dar. Die früher selbstverständliche Funktionentrennung von Analysten und Wertpapierhändlern wurde in den letzten Jahren systematisch aufgelassen. Seit die Maklergebühren in den USA 1975 abgeschafft wurden, leisteten sich die Investmentbanken keine wirklich unabhängigen Analysten mehr. Zahlreiche Fälle von Insider-Trading, Begünstigung bestimmter Aktionärsgruppen und ein dramatisches Auseinanderdriften von Analyse-Wahrheit und Kaufempfehlung führten bekanntlich dazu, daß sich die besten Investment-Banken-Adressen der Welt bereit finden mußten, an die amerikanische Bankaufsicht eine pauschale Ablaß-Zahlung von ca 1,4 Mrd. USD zu zahlen.
Folgewirkungen der „Shareholder Value“-Ideologie
Der gemeinsame Nenner der Entgleisungen und irrationalen Übertreibungen in allen vier angesprochenen Bereichen ist die aus dem Gleichgewicht geratene, einseitig ideologische Interpretation des „Shareholder-Value“. Die Fiktion, daß der jeweilige Börsenkurs bzw. dessen in der „Marktkapitalisierung“ abgebildete Multiplikation mit der Stückzahl der Aktien den jeweils gültigen Unternehmenswert darstelle, ist ebenso zur Ursache dramatischer Fehlentwicklungen geworden wie die dafür symptomatische Orientierung der Marktteilnehmer an Quartalsberichten.
Ich verzichte auf die Nennung der absurden Bewertungs-Kapriolen während des Milleniums-Booms und die vielen, zum Teil tragischen Geschichten von Unternehmen, die im Selbstverwirklichungs-Rausch ihrer CEO´s das Opfer kurzsichtiger Käufe, Verkäufe, Aus- und Umgliederungen wurden. Die Verlockung, mit dem Hebel weit überhöhter Wertansätze für das eigene Unternehmen auf Einkaufstour zu gehen, führte zu einer wahren Merger-Mania. Manchen gelang es tatsächlich, mit der Kunstwährung überhöhter Börsenkapitalisierung im Windschatten der Hausse Erfolge einzufahren, andere verkauften gegen hohe Ablösesummen ihre Seele – und die stolze Tradition eines gewachsenen Unternehmens dazu. Nicht wenige CEO´s, die vorgaben, alles nur für die Aktionäre und Kunden als ihre „Könige“ zu tun, setzten sich selbst als Herrscher des Systems ein und liessen sich als Wirtschaftshelden feiern
Wir haben es dabei keineswegs mit einzelnen Sonderfällen, Malversationen und Verführungen eitler Führungskräfte zu tun, sondern mit einer Fehlsteuerung durch untaugliche Spielregeln. Diese müssen grundlegend nachadjustiert werden, wenn wir wollen, daß das Kapitalmarktsystem und mit ihm das Unternehmenssystem nicht entgleist und wenn wir darauf wert legen, daß unsere Spielregeln auch in anderen Weltgegenden als vernünftig und nachahmenswert empfunden werden.
Die Engführung des Shareholder-Value als bestimmendes Steuerungselement von Unternehmensschicksalen und Führungskräfte-Performance ist ideologisch eng verbunden mit der Überbau-Phantasie der „Markt-Fundamentalisten“ von der Allmacht der Märkte und Marktwerten als universale Stellgröße. Ein derartiger Ansatz führt zwangsläufig zu einer systematischen Überschätzung der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft. Das Unternehmenssystem, die unternehmerische Wertschöpfung, wird zum Objekt von überwiegend kurzfristigen Finanzmarkt-Dispositionen.
Michael Porter wies schon zu Anfang der Neunzigerjahre bei einer Analyse der strategischen Standortfaktoren der USA auf potentielle Nachteile des amerikanischen Kapitalmarktsystems hin – lange bevor die später folgenden Übertreibungen sichtbar waren. Und er erwähnt erstmals kritisch die Rolle der Pensionsfonds, deren Marktverhalten schon damals industriepolitisch problematische Auswirkungen zeigte.
Die Marktmacht der Fondsmanager
Einer der zentralen Gründe für das Überhandnehmen der Shareholder-Value-Ideologie ist das säkuläre Bedeutungs-Wachstum von institutionellen Anlegern wie Pensionsfonds und Vermögensverwaltungen. Die für die Disposition bedeutsamer Vermögensmassen verantwortlichen Professionals des Asset-Management sind längst zu einem nicht nur ergänzenden, sondern bei vielen Unternehmen übermächtigen Faktor geworden. Sie treten als Mediatoren zwischen die klassischen Teilnehmer der Kapitalmärkte und haben die Rolle der Spielmacher übernommen. Investment-Banken, die sich auf das Zerlegen und Zusammenbauen von Unternehmen verstehen und damit ihr Geld machen, sind ihre wichtigsten Berater. Gemeinsam beeinflussen sie massiv die Positionierung von Unternehmen und deren Zugang zu den Kapitalmarkt-Quellen.
Allein in den USA weisen Fonds seit 1975 regelmässig ein jährliches Wachstum von mehr als 20% auf. Bereits 1997 übertraf ihr Gesamtvolumen die kumulierte Summe aller amerikanischen Bankbilanzen. Auch in Europa zeigen Fonds durch den Wegfall der Währungsbarrieren und die Neuordnung der Pensionssysteme ein überproportionales Wachstum.
Fonds-Manager unterliegen einem extremen Performance-Druck – und sie haben sich in Zeiten des Booms als höchst anfällig für verhaltensorientierte Veranlagungsstrategien erwiesen. Die Dispositionen der großen, anonym disponierten Vermögen richten sich vielfach nicht mehr nach fundamentalen Wert-Annahmen sondern nach Verhaltens- und Prognosemodellen der Aktivitäten von Mitbewerbern. George Soros nennt diesen Zusammenhang die „Reflexivität“ der Finanzmärkte. Die noch junge Wissenschaft der „Behavioral Finance“ befaßt sich mit dieser und verwandten Verhaltensweisen, die in der herkömmlichen ökonomischen Theorie noch keinen Platz gefunden haben.
Anpassung der Kapitalmarkt-Spielregeln
Die Frage, wie wir mit der aus den erwähnten Spielregeln ableitbaren Verfälschung von Kapitalmarktentscheidungen in Richtung Kurzfristigkeit und der daraus folgenden Übergewichtung der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft umgehen sollen, erlaubt keine Patent-Antworten. Erste Ansätze sind aber erkennbar. So liesse sich etwa analog zu dem kartellrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen Rahmen der Realwirtschaft auch für die Finanzwirtschaft eine Vorstellung von kritischen Größenordnungen der Einflußmacht von Asset-Managern entwickeln. Längst haben ja große Fondsgesellschaften eine Einflußgröße gewonnen, die ihnen de-facto-Mitverantwortung für die Unternehmen gibt, in die sie investiert sind.
Auch stellt sich die Frage, wie wir mit der völligen Intransparenz dieser Einflüsse dort umgehen, wo grössere Anteile gehalten werden. Das von den Kapitalmarkt-Puristen regelmäßig kritisierte Modell der „Deutschland – AG“, also des versicherungs- und banknahen Aktienbestandes von Unternehmungen, scheint in diesem Bereich im Verhältnis zu den Machtkonglomeraten der Amerika-AG geradezu transparent. Nach all dem, was wir auf den Kapitalmärkten in den letzten Jahren gesehen haben, ist die Doktrin, daß Aktienpakete und die damit verbundene Mitverantwortung für Corporate Control bei Finanz(fonds)investoren von vornherein besser aufgehoben sind als im Umfeld von Banken und Versicherungen, jedenfalls erschüttert.
Weiters haben wir bei der Adaptierung von Finanzmarkt-Spielregeln für Europa ein stark auf mittelständische Familienunternehmen orientiertes Umfeld zu berücksichtigen. Viele der für die US-Kapitalmärkte typischen Spielregeln sind auf große, anonyme Kapitalgesellschaften zugeschnitten und erweisen sich als inkompatibel mit den in Europa dominierenden familienunternehmerischen und damit auf Langfristigkeit angelegten Vorgangsweisen.
Kapitalmärkte und Standortpolitik: Zielkonflikte
Zu klären ist auch der richtige Umgang mit einem immer häufiger aufbrechenden Konflikt zwischen finanzwirtschaftlichen und standortpolitischen Zielen. Institutionelle Großinvestoren berücksichtigen nun einmal keine nationalen oder regionalen Interessen, sie trennen sich unsentimental von „underperformers“. Ein Land mit traditionell zu schmaler Basis an großen oder grösseren Unternehmen wie Österreich kann sich aber keinesfalls leisten, mit dieser Frage naiv umzugehen.
Solange im EU-Binnenmarkt fiskalische Fragen im Unterschied zu den USA im Rahmen der Steuer- und Budgethoheit miteinander im Wettbewerb stehender Nationalstaaten entschieden werden, deren Steuerbasis nun einmal die im Unternehmenssektor Beschäftigten sind, gibt es einen ausgeprägten, wenn auch selten offen artikulierten innereuropäischen Standortwettbewerb. An dieser Ausgangsbasis wird sich aus heutiger Sicht auf absehbare Zeit nichts Grundsätzliches ändern.
Der gleiche Zielkonflikt findet sich eine Ebene darüber im globalen Zusammenhang wieder: auch dort kommt es zu „Spannungen zwischen der globalen Dimension liberalisierter Finanzmärkte und der nationalstaatlich ausgerichteten Politik“ (George Soros) mit ihren jeweiligen standortpolitischen Interessen. Wir werden daher differenzieren müssen und den unterschiedlichen Entwicklungsstand und Entwicklungsrhytmus einzelner Länder auf ihrem Weg zur Marktöffnung zu respektieren haben. Selbst der in dieser Hinsicht wirklich unverdächtige „Economist“ konzediert, daß es einen starken Unterschied im Tempo und Modus der Marktöffnung macht, ob Handelsströme oder Kapitalströme liberalisiert werden. So kann etwa die Kontrolle des kurzfristigen Kapitalverkehrs in Entwicklungsländern ein legitimes Mittel nationaler Finanzpolitik sein.
Eine amerikanische Herausforderung
Wenn wir die mißbrauchsanfälligen, und zu einer systematischen Überbewertung der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft beitragenden Finanzmarkt-Spielregeln mit ihrer zu Instabilität drängenden Dynamik ändern wollen, brauchen wir dazu wesentlich mehr kritische Distanz als bisher. Es fällt unseren Wirtschaftseliten jedoch offensichtlich nicht leicht, sich von der unkritischen Übernahme der einseitig am Kapitalmarkt ausgerichteten Verhaltensregeln zu trennen, obwohl – oder weil – wir gerade dabei sind, die dazu passenden kollektiven Reue-Rituale der „Corporate Social Responsibility“ einzuüben.
Kapitalmärkte sind in erster Linie Mittel zum Zweck, indem sie der Unternehmerwirtschaft eines Landes die geeigneten Instrumente für Wertschöpfung und Wachstum an die Hand geben. Es gibt daher keinen Grund, sie zu überschätzen, indem man ihnen eine Leitfunktion für das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zumisst. Sir Karl Popper hat in einem Vortrag „Über den Zusammenprall von Kulturen“ zu Anfang der Achtzigerjahre daran erinnert, daß die Ordnung ein notwendiger Gegenwert der Freiheit ist. Das gilt letztlich wohl auch für den notwendigen Ordnungsrahmen der Kapitalmarktfreiheit.
Wir müssen in Europa darum bemüht sein, unseren Unternehmen die Vorteile funktionierender Kapitalmärkte zu sichern, ohne sie den unvermeidlichen Fehlsteuerungen der in wichtigen Bereichen aus dem Ruder gelaufenen amerikanischen Kapitalmarktspielregeln auszusetzen. Eine selbstbewußt geführte Debatte, beginnend bei den Bilanzierungsregeln über europäische Corporate Governance bis zu einem umfassenden finanzmarktpolitischen Regel-Setting, ist überfällig.
Wir sollten uns dabei leisten, bei allem Harmoniebedürfnis, nicht an dem handfesten wirtschafts- und machtpolitischen Wettbewerb zwischen den Groß-Wirtschaftszonen der Welt vorbeizureden. Es ist weder strategisch noch technologiepolitisch gleichgültig, wer die mächtigsten Software-Netze und Kommunikationsnetze der Welt beherrscht und es ist natürlich bedeutungsvoll, ob Europa über eine eigenständige, leistungsstarke Flugzeugindustrie verfügt. Die Entscheidung, die zum Airbus geführt hat, war nicht den Finanzmärkten überlassen, es war eine industriestrategische Entscheidung, die zum Erfolg geführt hat. Auch die Entscheidung Europas, sich am Kyoto-Prozess zu beteiligen, ist eine eigenständige. Unser Gesellschaftsvertrag ist eben anders als jener der USA mit ihren Bürgern. Diese Diversität ist auf beiden Seiten zu akzeptieren.
„Le defi´Americain“, die amerikanische Herausforderung, war der Buchtitel einer äusserst erfolgreichen Streitschrift von Jean-Jacques Servan-Schreiber in den Siebzigerjahren. Er war mit seinem Bestseller nicht unwesentlich daran beteiligt, daß es in der Folge zu den mutigen Schritten der großen Europäer vom Format eines Delors, Schmidt, Kohl, Giscard und Mitterand kam, die zum Binnenmarkt und zum Euro führten. Heute stehen wir in den Finanzmärkten vor einer weiteren amerikanischen Herausforderung, der es mit einer selbstbewußten europäischen Strategie zu begegnen gilt.