Die Zukunft der europäischen Finanzarchitektur

Bis hierher – und immer weiter?

 

Beitrag für Industrie aktuell, 2022

Der Ukraine-Krieg prolongiert die seit der Finanzkrise vorherrschende geld- und fiskalpolitische Ausnahmesituation und erzwingt eine grundlegende Erneuerung der europäischen Finanzarchitektur.

Europa hat im Umgang mit den von der Finanz-, Staatsschulden- und Coronakrise ausgelösten ökonomischen Schocks eine beachtliche Lernfähigkeit unter Beweis gestellt. Immer dann, wenn sich die Lage geld- oder fiskalpolitisch zuspitzte, kam es zu einem zwischen der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Europäischen Rat und der EU-Kommission eng abgestimmten Einsatz „unkonventioneller“ Hilfsmaßnahmen, mit denen das Schlimmste verhindert werden konnte. Geldpolitisch geht es dabei vor allem um großvolumige Anleihekäufe bei zugleich extrem niedrigen Zinsen, fiskalpolitisch hingegen um gewichtige nationale, sowie zuletzt auch gesamteuropäische Hilfspakete.

Mit dem Auslaufen der Covid-Krise verband sich die Hoffnung auf Normalisierung in beiden für die Finanzmarktstabilität wie den Zusammenhalt des Euro so entscheidenden Aktionsfeldern. Der Schock der Ukraine-Krise mit ihren derzeit noch in keiner Weise abschätzbaren Folgekosten erzwingt nun jedoch eine Fortsetzung des finanzpolitischen Rettungseinsatzes. Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil sich dessen unerwünschte Nebenwirkungen in Gestalt von Preisblasen auf den Aktien- und Immobilienmärkten und damit verbundenen verteilungspolitischen Verwerfungen spätestens jetzt nicht mehr länger verdrängen lassen. Zusätzlich unterhöhlt die sich seit Ende vergangenen Jahres verschärfende Inflation die bisherigen Begründungen des permanenten Einsatzes notfallmedizinischer Instrumente. 

So wurden die Staatsanleihekäufe der EZB über die längste Zeit mit dem Anstreben eines gesamteuropäischen Mindest-Inflationszieles von etwas unter zwei Prozent gerechtfertigt. Unausgesprochen blieb jedoch, dass sie zuallererst der Absicherung des Zusammenhalts der Gemeinschaftswährung dienen. Nicht weniger problematisch ist die kollektive Verdrängung der Tatsache, dass der im Sommer 2020 zustande gekommene, 750 Milliarden Euro schwere Corona-Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“) schwerwiegende Konstruktionsfehler aufweist. Zugleich zeigt sich deutlich, dass die durch die aufeinanderfolgenden Krisen verursachten Staatsdefizite nicht mehr in das Korsett der vor drei Jahrzehnten im Vertrag von Maastricht festgelegten Verschuldungsregeln passen. Um das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung zu erhalten, ist deshalb spätestens jetzt eine grundlegende Erneuerung der europäischen Finanzmarktarchitektur in Angriff zu nehmen.

Lektionen aus der Staatsschuldenkrise
Im Rückblick zeigt sich, dass Europa auf die in Folge der Finanzkrise 2008 stark angestiegenen Staatsschulden und das damit verbundene Auseinanderstreben der Anleihekosten in den Euro-Mitgliedsstaaten zunächst mit einiger Verzögerung reagierte. Beinahe ein Jahrzehnt lang hatte man sich nach der 1999 erfolgten Einführung der Gemeinschaftswährung an eine weitgehende Angleichung der Renditen von Staatsanleihen gewöhnt. Nun jedoch zeigte sich, wie exponiert Europa in Krisen ist – aus dem einfachen Grund, dass zwar die Geldpolitik zentral gesteuert wird, die Verantwortung für die Staatshaushalte jedoch bei den Mitgliedsstaaten verbleibt. Diese waren zugleich als nationaler Firmensitz international verflochtener Großbanken von deren Sanierungskosten unmittelbar budgetär betroffen. Die daraus entstandenen Budgetdefizite verursachten Bonitätsprobleme und wurden zum Auslöser der europäischen Staatsschuldenkrise. Ein vergleichbares, jederzeit wiederholbares zwischenstaatliches Ansteckungsproblem in Finanzkrisen kann sich in den USA nicht stellen, da diese im Unterschied zu Europa als Fiskalunion agieren.

Allzu lange blieb damals offen, ob eine bis dahin für undenkbar gehaltene Zahlungsunfähigkeit eines oder mehrerer Eurostaaten weiterhin ausgeschlossen werden konnte. Erst als im Sommer 2012 ein Zerfall des Euro drohte, fiel die Entscheidung für den koordinierten Einsatz ganz neuer Instrumente. Mario Draghi kündigte als damaliger EZB-Präsident unlimitierte Liquiditätsunterstützung für Europas Banken an. Begleitend dazu richtete die EU anstelle der zuvor lediglich temporären Notfallhilfen den permanenten Rettungsschirm ESM ein. In weiterer Folge setzten ab 2015 die Anleihe-Kaufprogramme der EZB ein, wobei der Ankauf von Staatsanleihen im Wege von Banken erfolgt, da der Maastricht-Vertrag einen Direktkauf ausdrücklich ausschließt. Dass der Einsatz dieses insgesamt wirksamen Maßnahmenpaketes so spät erfolgte, erwies sich als äußerst kostspielig. Noch heute sind die Budgets höher verschuldeter Euro-Mitgliedsstaaten mit den überbordenden Zinskosten von damals belastet.

Maßnahmenpakete gegen die Corona-Krise
Nach Ausbruch der Corona-Krise leistete man sich keine derartigen Verzögerungen mehr. Als es gleich nach Bekanntwerden der Pandemie Anfang März 2020 zu einem ersten Anstieg der Anleiherenditen von Staaten wie Italien oder Spanien im Vergleich zur Deutschen Bundesanleihe gekommen war, fiel unverzüglich die Entscheidung für ein umfassendes Anleihe-Ankaufsprogramm (Pandemic Purchase Programme / PEPP). Unmittelbar darauf stellt sich der erhoffte Effekt eines Rückgangs der Anleiherenditen der betroffenen Staaten auf das ursprüngliche Niveau ein. Der diskrete Beschluss, in Abweichung von den bis dahin geltenden Bestimmungen Anleihen von Euro-Mitgliedsstaaten auch dann anzukaufen, wenn sie mehr als ein Drittel von deren jeweiligen Staatsschulden ausmachen, unterstützte diese rasche Normalisierung. In Verbindung mit den extrem niedrigen Zinsen erleichterten die Anleihekäufe überdies die Finanzierung budgetärer Stützungsprogramme auf einzelstaatlicher Ebene.

Ergänzend dazu entstand nach längerem politischem Ringen der „Next Generation EU“-Wiederaufbaufonds, dessen Finanzierung erstmals durch die Platzierung von Gemeinschaftsanleihen aufgebracht wird. Von einigen ihrer Befürworter wird diese Finanzierungsform als einmalige, der Krise geschuldete Abweichung von der bisherigen Praxis eingestuft. Andere sehen in der Emission von Eurobonds hingegen einen Durchbruch auf dem Weg zu einer künftigen Fiskalunion. Der den Euro begründende Vertrag von Maastricht, in dem die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten gemeinsam mit dem „No-bail-out“-Gebot fixiert wurde, wäre damit allerdings ebenso außer Kraft gesetzt wie das darin festgehaltene Regelwerk zur Einhaltung von Verschuldungsgrenzen.

Wie es um die politische Akzeptanz der mit der gemeinschaftlichen Verschuldung verbundenen, faktischen Änderung der EU-Verfassung am Ende bestellt sein wird, dürfte vor allem davon abhängen, ob es – wie derzeit beabsichtigt – gelingen kann, die ab 2026 vorgesehene Rückzahlung der Anleiheverpflichtungen aus neu zu schaffenden, gesamteuropäischen Steuerquellen zu bewerkstelligen. Neben einer bereits vorakkordierten Plastiksteuer geht es dabei um CO2-Abgaben und eine Digitalsteuer. Beide stecken konzeptionell jedoch erst in den Anfängen. Sollte die Einigung auf zusätzliche Steuerquellen nicht gelingen, bliebe es in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten, für die zusätzlichen Verpflichtungen aufzukommen.

Mut zu neuen Verschuldungs-Regeln
Wie die quer durch Euroland in Folge der aufeinanderfolgenden Krisen massiv angewachsenen Schuldenstände mittel- bis langfristig normalisiert werden können, ist noch nicht einschätzbar. Fest steht jedoch, dass der bisher als Obergrenze geltende, sechzigprozentige Anteil der Staatsschuld am jeweiligen Bruttosozialprodukt für eine Mehrheit der Euro-Länder auf absehbare Zeit außer Reichweite liegt. Zuletzt wurde aus diesem Grund selbst von konservativen Fiskalpolitikern eine neue Obergrenze von 100 Prozent ins Spiel gebracht.

Schon nach der Finanzkrise hatte es sich als Fehler erwiesen, den vor drei Jahrzehnten unter ganz anderen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen fixierten 60-Prozent-Maßstab in dem bis heute geltenden, aber kaum mehr praktikablen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verankern. Denn die Orientierung an Defizit- und Schuldengrößen, die bei einbrechender Konjunktur ganz von selbst höhere Anteile an der gesunkenen Wirtschaftsleistung ausweisen, sagt nun einmal wenig über die Qualität der jeweiligen Verschuldung aus.

Immer klarer wird auch, dass realistisch adaptierte Stabilitätsregeln Spielräume für Zukunfts- und Infrastrukturinvestitionen vorsehen müssen. Die dauerhafte Fixierung auf ein jährlich höchstens dreiprozentiges Nettodefizit, bei dessen Zustandekommen nicht unterschieden wird, ob es aus den Strukturen der laufenden Haushaltsgebarung entsteht oder auf Investitionen in Zukunfts- und Infrastrukturprojekte zurückgeht, erweist sich als nicht praktikabel. Zugleich sollte jedoch außer Streit stehen, dass die Letztverantwortung für die Solidität der Staatshaushalte auch in Zukunft bei den Mitgliedsstaaten zu verbleiben hat.

Dennoch wären zentrale Budgets für gesamteuropäische Projekte, die abseits der nationalen Haushalte finanziert werden, ein durchaus vertretbarer Schritt in Richtung Fiskalunion, ohne die Mitgliedsstaaten aus ihrer Eigenverantwortung zu entlassen. Ebenso sinnvoll erscheint es, den zwischenzeitlich aufgeschobenen Plan neu aufzugreifen, den ESM zu einem Europäischen Währungsfonds auszubauen. Dieser hätte die vorrangige Aufgabe, die Mitgliedsstaaten entlang der reformierten Fiskalregeln bei der Reform ihrer Budgetstrukturen zu unterstützen.

Überlegenswert ist auch eine dauerhafte Entlastung aller europäischen Staatshaushalte durch die Bündelung der kumulierten, krisenbedingten Neuverschuldung in einer von der EZB angekauften Sondertranche zu Niedrigzinsen mit extrem langer Laufzeit. Eine solche teilweise Neutralisierung von krisenbedingten Sonderkosten findet im Übrigen bereits im Rahmen des neu geschaffenen Wiederaufbaufonds statt, dessen anteilige Rückzahlungsverpflichtungen den Verschuldungsquoten der Mitgliedsstaaten nicht zugerechnet werden.

Aber nicht nur die Maastricht-Regeln stehen vor einer grundlegenden Überarbeitung – auch die EZB steht nach mehr als einem Jahrzehnt im Krisenmodus vor Anpassungserfordernissen ihrer strategischen Ausrichtung im Kontext der längst unauflöslichen gegenseitigen Abhängigkeit von Geld- und Fiskalpolitik. Es wird nicht einfach sein, dabei die richtige Balance zwischen Subsidiarität und Zentralität zu finden. Die engagierte, offene Suche danach ist aber jedenfalls zielführender, als irreversible Weichenstellungen in Richtung einer Fiskalunion einfach „passieren“ zu lassen.

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