die furche - 357

Geopolitik in allzu interessanten Zeiten

Abkoppelung wäre die falsche Antwort auf Europas vielfache Abhängigkeit von China.

Ganze drei Jahre vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges lautete das aus heutiger Sicht geradezu prophetische Motto der Biennale Venedig 2019 „May you live in interesting times“. Ob es den Veranstaltern damals bewusst war, dass es als „chinesischer Fluch“ gilt, seinen Feinden interessante Zeiten zu wünschen, ist mir nicht bekannt. Sooo interessant hätten sie jedenfalls nicht werden müssen!

Jetzt, mitten in den durch Putins Überfall ausgelösten geopolitischen Verwerfungen, werden Erklärungen dafür gesucht, warum wir auf die neuen Wirklichkeiten nicht vorbereitet waren.  Unbestritten scheint, dass die meisten Staaten Europas, Deutschland und Österreich allen voran, die Abhängigkeit vom russischen Erdgas nicht wahrhaben wollten. Schon weniger klar ist hingegen, ob die aus heutiger Sicht nicht weniger bedenklichen Abhängigkeiten von China zu erkennen waren. Die Angewiesenheit auf unverzichtbare Rohstoffe und seltene Erden ebenso wie auf Zulieferungen etwa von Solarzellen und digitalen Komponenten ist jedenfalls zu einem ganz realen „chinesischen Fluch“ geworden, den wir so rasch nicht loswerden.

Wie darauf reagieren? Fatal wären voreilige Schlüsse in Richtung einer Abkoppelung. Denn auch wenn blindes Vertrauen nicht mehr gerechtfertigt ist, bleibt es begleitend zum schrittweisen Abbau von Abhängigkeiten dennoch unverzichtbar, weiterhin arbeitsteilig zu kooperieren.

Auch spricht viel dafür, dass Staatschef Xi Jinping seinen marxistisch-marktwirtschaftlichen Großversuch eines „gemeinsamen Wohlstands für Alle“ entschlossen weitertreiben will, gelang doch dem Reich der Mitte seit der Öffnung hin zur Welt des Austauschs und der Konkurrenz eine weitgehende Befreiung von Massenarmut und der Aufstieg zu der an der gesamten Kaufkraft gemessen schon heute größten Volkswirtschaft der Welt.

Vor diesem Hintergrund war es eine der raren guten Nachrichten dieser Tage, dass Deutschlands Kanzler Olaf Scholz mit seinem Besuch in Peking friedenspolitische Akzente setzen konnte. Xi Jinping ließ sich mit dem Satz zitieren, alle Seiten müssten sich „in Rationalität und Zurückhaltung üben, Bedingungen für eine Wiederaufnahme von Verhandlungen schaffen und … den Einsatz von und die Drohung mit Atomwaffen verhindern.“

Dass Scholz kurz davor, nach berechtigten Einwänden gegen den Verkauf eines höheren Anteils, dem Erwerb eines unterhalb der Sperrminorität liegenden, 24,9-prozentigen Anteils an einem Terminal des Hamburger Hafens durch die chinesische Staatsrederei Cosco zugestimmt hatte, war dem Gesprächsklima wohl förderlich.

Die aktuelle Herausforderung lautet, nicht nur die multilateralen Rahmenbedingungen für eine sozial und ökologisch verträgliche Globalisierung weiter zu entwickeln, sondern auch sicherheitspolitisch für die nachhaltige Absicherung friedlichen Austauschs zu sorgen. Vor dem russischen Überfall hatten wir Europäer diese geopolitisch entscheidende Nebenbedingung verdrängt. Wenn die Zeiten weniger spannend werden sollen, werden wir sie wohl erfüllen müssen. 

10. November 2022

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