Die Furche - 356

Vom Warten auf die Stunde der Wahrheit

Trotz aller Polarisierung: es braucht Wege zu einem Verhandlungsfrieden.

Die disparate Meldungslage der vergangenen Wochen macht rat- und fassungslos. Da werden mitten im Putin´schen Zerstörungsfeldzug gegen Menschen, Häuser und Infrastrukturen großmütige Marshall-Pläne für den Wiederaufbau der Ukraine gewälzt, als stünde man kurz vor dem siegreichen Ende dieses in Wahrheit immer noch eskalierenden Gemetzels. In Frankfurt zeichnet man in der Person von Serhij Zhadan einen Dichter mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels aus, der sich offen zu seinem in bitteren Kriegserfahrungen angewachsenen Russen-Hass bekennt. In den USA ziehen 30 demokratische Abgeordnete nach innerparteilichen Widerständen einen Brief zurück, in dem sie Präsident Biden dazu auffordern, "die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine mit einem proaktiven diplomatischen Vorstoß zu verbinden und die Bemühungen um einen realistischen Rahmen für einen Waffenstillstand zu verdoppeln". Ihren der Parteidisziplin geschuldeten Rückzug begründen sie damit, dass der Text schon im Juni verfasst worden war und nun, angesichts der Geschehnisse seither, nicht mehr gelten könne. In Moskau bereitet die diktatorische Propaganda währenddessen das „Narrativ“ eines Einsatzes von „verschmutzten“ – gemeint ist atomaren – Waffen vor. Vermittelnde Positionen sind in all der Polarisierung nicht mehr erkennbar.

Zugleich zeigen sich quer durch Europa erste soziale Verwerfungen und Einbrüche des Wirtschaftsgeschehens in Folge des erpresserischen Gas-Lieferstopps. Massiv angestiegene Lebenshaltungskosten und Erzeugerpreise industrieller Vorprodukte lassen die Inflation ausufern. Eine indirekt ebenfalls kriegsbedingte Abwertung des Euro trägt das ihre dazu bei. Auch an den Börsen gilt Good old Europe mittlerweile als Sorgenkind.

Wie es in den vor uns liegenden Monaten weitergehen wird, ist nicht seriös einschätzbar. Wer immer Prognosen wagt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit ähnlich treffgenau wie jene Wirtschafts-Meteorologen, die noch vor einem Jahr die ansteigende Inflation als vorübergehend einschätzten, weil sie doch mit dem Ende der post-coronaren Lieferkettenprobleme wieder zurückgehen sollte.

Ähnlich fehlgeleitet wäre es, in Bezug auf die Beschäftigungssituation die Hoffnung zu hegen, unsere Hauptsorge werde noch für längere Zeit vor allem darin bestehen, überhaupt Arbeitskräfte zu finden. Es ist nämlich zu befürchten, dass uns dieses Luxusproblem nicht mehr lange quälen wird und schon in wenigen Monaten Betriebsschließungen und Standortverlagerungen zu handfesten Jobnöten führen werden. Dürfen wir vor diesem Hintergrund weiter Fakten ausblenden, nur um nicht in den Verdacht zu geraten, einem naiven Pazifismus anzuhängen?

Wir sollten, davon bin ich überzeugt, nicht auf die Stunde der Wahrheit warten, bevor wir unangenehme Wahrheiten aussprechen. Deshalb bleibe ich, trotz eines unleugbaren inneren Widerstands, bei meinem in einer früheren Kolumne (FURCHE-Kolumne 346) formulierten „Plädoyer für einen Verhandlungsfrieden“ – auch wenn der Text dazu schon im Juni entstand. 

03. November 2022

download