die furche - 346

Plädoyer für einen Verhandlungsfrieden

Europa darf sich die Mit-Entscheidung über Krieg oder Frieden nicht aus der Hand nehmen lassen

Drei Staatschefs im Salonwagen: das Pressefoto von Mario Draghi, Emanuel Macron und Olaf Scholz auf ihrer Anreise nach Kiew erschien mir geradezu symbolhaft für die Tatsache, dass Europa dabei ist, im Übereifer solidarischen Aktionismus das außenpolitische Heft aus der Hand zu geben. Das lockere G7-Gruppenbild vor der ungetrübten Alpenkulisse von Elmau hat diesen Eindruck noch verstärkt. Längst sind die täglichen Statements des todesmutigen Wolodymyr Selenskyj im Verein mit transatlantischen Zurufen zu den entscheidenden strategischen Taktgebern geworden und lassen jene verstummen, die mit zunehmender Dauer des Krieges auf einen Verhandlungsfrieden drängen.

Und doch könnte die – trotz aller Versäumnisse gegenüber den Balkanstaaten grundrichtige – Entscheidung für einen EU-Beitrittskandidaten-Status der Ukraine gerade jetzt, in der Woche des NATO-Gipfels in Madrid, das Fenster für eine Chance auf Einigung öffnen. Eine neutrale Ukraine mit europäischer Perspektive, die als Preis der Freiheit die Abtretung der Krim sowie einen Sonderstatus der beiden Ostgebiete Luhansk und Donezk akzeptiert, hätte die Chance zu einem Neubeginn. Dem „gesichtswahrenden“ Beute-Erfolg des brutalen russischen Diktators stünde bei dieser Lösung ein mindestens ebenso großer Abwehr-Erfolg der Ukraine gegen die ursprünglich intendierte Landnahme ihres gesamten Territoriums gegenüber.

In der Folge hätte Europa die Chance, die Konsequenzen aus der Unberechenbarkeit des russischen Nachbarn zu ziehen – sowohl militärisch als auch energiepolitisch. Der Aufbau einer eigenen gesamteuropäischen Verteidigungskapazität müsste Schutz gegen künftige russische Übergriffe sicherstellen. Parallel dazu böten Anstrengungen in Richtung erhöhter Rohstoff-Autonomie in Kombination mit dem ohnehin überfälligen Übergang zu Alternativenergien die Chance, uns von der kurzfristig unüberwindbaren Erpressbarkeit durch Moskau zu befreien.

Durch weitere Verschärfungen von auf Europa selbst zurückschlagenden Sanktionen und forcierte Waffenlieferungen die schreckliche Sache so in die Länge zu ziehen, dass sich nicht nur die Opfer der unmittelbar betroffenen Zivilbevölkerung, sondern auch die Folgeschäden für den gesamten europäischen Raum potenzieren, liefe hingegen am Ende auf einen unermesslich opferreichen Erschöpfungsfrieden hinaus.

Auch wenn NATO-Generalsekretär Stoltenberg meint, dieser Krieg könne noch mehrere Jahre dauern: die Kosten einer solchen Perpetuierung wären dramatisch höher als die eines den Realitäten Rechnung tragenden Friedensschlusses. Am Ende wäre damit das gesamte europäische Projekt bedroht – spätestens dann, wenn in Folge des wirtschaftlichen Einbruchs auch die europäische Währung in eine existentielle Krise schlittert.

So unangemessen diese Forderung nach den jüngsten Kriegsverbrechen der russischen Armee auch erscheinen mag: Europa muss dennoch auf einen Verhandlungsfrieden hinarbeiten und darf sich die Mit-Entscheidung über Krieg oder Frieden nicht weiter aus der Hand nehmen lassen.

30. Juni 2022

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