Neutralität ist nicht nur eine verteidigungs-politische Kategorie. Wir sollten die damit verbundene Sonderrolle Österreichs nicht leichtfertig aufgeben.
In „normalen“ Zeiten – wir erinnern uns noch, es gab sie wirklich! – durfte man als teilnehmender Beobachter des Geschehens so etwas wie Zeitgenossenschaft empfinden. Im Zeichen des kriegerischen Geschehens in der europäischen Nachbarschaft weicht dieses Lebensgefühl einer immer bedrückenderen Macht- und Einflusslosigkeit. Ob es um Energiesanktionen oder Waffenlieferungen geht: was immer an weichenstellenden Maßnahmen in supranationalen Gremien entschieden wird, hat zu gelten. Wer wagt es da noch, einen Verhandlungsfrieden zu fordern? Und wer wollte andererseits jenen im Weg stehen, denen ihre und die Freiheit ihrer Nachfahren jedes Opfer wert ist? Die Meinungsfronten verhärten sich, für Zwischentöne bleibt kein Platz mehr.
Nach der beeindruckend klaren historischen Entscheidung Finnlands und Schwedens für einen NATO-Beitritt zeichnet sich ab, dass die Frage nach der Zukunft von Österreichs Neutralität zum nächsten, polarisierenden Thema wird. Wenn man sich ohnehin schon nur mehr auf dem Bündnis angehörende Nachbarstaaten verlässt, sollte man sie ehrlicherweise aufgeben, heißt es da. Eine ernsthafte Reform des über Jahrzehnte systematisch geschwächten Bundesheers gilt ohnehin als politisch unzumutbar. In Wirklichkeit geht es jedoch um viel mehr als den Feldaufschwung in Richtung einer zeitgemäßen Verteidigungsstrategie.
Nicht umsonst galt es nämlich beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen 1994 als großer Erfolg, dass die im Staatsvertrag verankerte Neutralität in die EU-Mitgliedschaft hinübergerettet werden konnte. Österreichs Sonderstellung im geopolitischen Ringen konnten damit institutionell abgesichert werden. Nachdem es Bundeskanzler Bruno Kreisky in den Siebzigerjahren gelungen war, unser Land erfolgreich als Ort der internationalen Begegnung und Mittler zwischen den Weltmächten zu positionieren, war Wien neben Genf zu einem der beiden europäischen Hauptsitze der Vereinten Nationen geworden. Erstaunlicherweise geschah dies gegen heftigen innenpolitischen Widerstand, war doch das Volksbegehren gegen die Errichtung des Konferenzzentrums mit über 1,3 Millionen Stimmen das erfolgreichste der Zweiten Republik.
Heute reicht der Bogen der etwa zwei Dutzend in Österreich beheimateten supranationalen Organisationen von der UNIDO über die OSZE bis zur OPEC und Büros der Weltbankgruppe. Wer ernsthaft die Aufgabe der Neutralität befürwortet, würde deren sukzessive Abwanderung riskieren. Der damit verbundene Bedeutungsverlust, die verloren gehenden Arbeitsplätze und massive Einbußen für die Konferenzhotellerie würden sich zu wohl schwer verkraftbaren immateriellen und materiellen Schäden summieren.
Aber nicht nur deshalb sollten wir unsere Neutralität als Ausgangsbasis verstärkter friedenspolitischer Anstrengungen sehen und uns vor neutralitätspolitischen Kurzschlusshandlungen in Acht nehmen. Es erscheint mir gerade jetzt von nahezu unschätzbarer Bedeutung, eine eigenständige Stimme zu haben und nicht in jeder existentiellen Frage Teil eines Entscheidungskollektivs zu sein.
19. Mai 2022