Ein vollständiger Rückzug österreichischer Unternehmen aus Russland könnte die Putin-Diktatur sogar stärken, statt sie zu schwächen.
Differenzierte Urteile über die Treffsicherheit und Angemessenheit von Sanktionen werden angesichts der Ruchlosigkeit des Putin´schen Vorgehens in der Ukraine immer schwieriger. Aktuell scheiden sich die Geister an der Frage, wer sich an dem von einer EU-Mehrheit befürworteten Boykott russischen Erdgases beteiligt. Wie Deutschland schließt sich auch Österreich diesem Schritt bisher aus guten Gründen nicht an, wäre doch der in Form wirtschaftlicher und sozialer Selbstschädigung dafür zu entrichtende Preis schlicht zu hoch. Eben das unterscheidet diese spezifische Maßnahme von den bisherigen, in beachtlicher westlicher Einigkeit beschlossenen Blockaden von Zentralbankguthaben, Kontosperren für Oligarchen und Lieferverboten von militärischen und technologischen Schlüsselkomponenten.
Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der großen Mehrheit der rohstoffreichen Länder um Diktaturen oder Autokratien handelt, sind überdies die meisten alternativen Quellen nur um den Preis der Inkaufnahme einer fatalen Doppelmoral zugänglich. Oder sollte man mit einem Mal nichts mehr dagegen haben, sich Potentaten erdölreicher „Schurkenstaaten“ wie Saudi-Arabien oder Venezuela zu Freunden zu machen?
Nicht weniger schwierig ist die Abwägung der Frage, wie sich in Russland tätige ausländische Unternehmen verhalten sollen. An der Yale School of Management wird seit kurzem ein Register sämtlicher in Putins Reich tätigen Firmen geführt, verbunden mit der strikten Erwartung, alle Aktivitäten dort unverzüglich einzustellen. Wer nicht am Pranger dieser „Hall of Shame“ stehen möchte, müsste sich demnach zum vollständigen Rückzug entschließen. Dieses geradezu inquisitorische Verlangen spießt sich allerdings mit einer Wirklichkeit, die eben nicht nur Schwarz und Weiß kennt.
So macht ein näherer Blick auf österreichische Unternehmen mit russischen Produktionsstätten deutlich, dass es keinen Sinn machen kann, das Aufbauwerk von drei Jahrzehnten zu opfern, ohne vermeintliche Sanktionserfolge gegen damit einhergehende Kollateralschäden abzuwägen. Der soziale Preis der sofortigen Kündigung von geschätzten 50.000 russischen MitarbeiterInnen, die in österreichischen Tochterfirmen tätig sind, wäre wohl deutlich zu hoch. Dazu käme der Totalverlust all der umfänglichen Investitionen, die von angesehenen Firmen wie Egger, Herz-Armaturen, Palfinger oder Wienerberger seit dem Fall des Eisernen Vorhanges getätigt wurden.
Auch sollte man nicht unterschätzen, wie sehr westliche Firmen durch die Übertragung ihrer Unternehmenskultur im täglichen Zusammenwirken dazu beitragen können, ihren MitarbeiterInnen Gestaltungsspielräume einzuräumen, die ihnen ihr Staat nicht gewährt. BMW hat in den Siebzigerjahren mit der Aufhebung der Apartheid in seinem südafrikanischen Werk beispielhaft gezeigt, was damit gemeint ist. Alle Chancen auf solche Systemveränderung von unten abrupt aufzugeben, wäre deshalb nicht nur unvernünftig. Die brutale Putin-Diktatur würde damit sogar gestärkt, statt sie zu schwächen.
21. April 2022