die furche - 334

Euro 2022: Seid umschlungen Millionen

Nach einem Jahrzehnt permanenter Rettungspolitik braucht der Euro eine neue Finanzverfassung.

Vor einem halben Jahrhundert, am 19. Jänner 1972, kürte der Europarat die Beethoven´sche Vertonung von Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ zur Hymne des noch jungen Staatenbundes. Die daraus oft zitierte Textzeile „Seid umschlungen Millionen“ hat – auch wenn das im Jubiläumsjahr des Euro naheliegend erscheinen mag – nichts mit Geldangelegenheiten zu tun. Und wenn es anderer Stelle heißt „Unser Schuldbuch sei vernichtet“, dürfen wir das ebenso wenig als Vorschlag zur Lösung des Staatsschuldenproblems missverstehen. Unbestreitbar ist jedoch, dass die bevorstehenden Weichenstellungen zur Zukunft der Gemeinschaftswährung nur mit einer ausgiebigen Dosis europa-hymnischer Inspiration gelingen werden.

Im Startjahr des Euro war ja noch keineswegs klar, ob das Projekt gelingen würde. Zwei Jahrzehnte später fällt die Zwischenbilanz in nahezu allen wesentlichen Aspekten klar positiv aus: Der Entfall von innereuropäischen Ab- oder Aufwertungsrisiken hat Arbeit, Wertschöpfung und Wohlstand im Binnenmarkt deutlich gesteigert. Die Geldentwertung war – von den jüngsten, überwiegend Corona-bedingten Ausschlägen abgesehen – im langjährigen Durchschnitt deutlich niedriger als zuvor. Und außerdem festigt die zweitwichtigste Währung der Welt Europas Position im geopolitischen Wettbewerb zwischen den USA und China.

Aber es bleiben auch offene Flanken. Denn so eindrucksvoll es gelungen ist, von der Finanzkrise über die Staatsschuldenkrise bis zur Coronakrise eine ganze Kaskade von nicht vorhersehbaren Bedrohungsszenarien durch geld- und fiskalpolitische Sondermaßnahmen zu bewältigen: irgendwann erschöpft sich die permanente Intensivmedizin. Seit 2010 ein zunächst provisorischer, später dann permanenter Schutzschirm für budgetär notleidende Euro-Länder gespannt wurde, folgte nämlich eine Ausnahmeregelung der nächsten. Auch überdehnt die Europäische Zentralbank ihr angestammtes Mandat, um mit exzessiven Anleihekäufen und einer zuletzt kaum mehr begründbaren Nullzinspolitik den Zusammenhalt des Euro zu sichern.

Nun aber steht eine Stunde – nein genauer: ein Jahr der Wahrheit bevor. Wenn nämlich nahezu nichts mehr so ist, wie es im zu Anfang der Neunzigerjahre verfassten Drehbuch des Vertrags von Maastricht steht, muss das Stück mit dem Wissen von heute neu inszeniert werden. Ja, die alten Spielregeln taugen nicht mehr – aber wir dürfen dennoch nicht auf einen verbindlichen budgetpolitischen Handlungsrahmen für Euro-Staaten verzichten. Und Ja, es macht durchaus Sinn, gesamteuropäische Vorhaben mit Gemeinschaftsschulden zu finanzieren. Auch spricht viel dafür, die Sonderlasten aus den drei Großkrisen gemeinsam zu schultern, statt sie den normalen Schuldquoten hinzuzurechnen. All das darf jedoch nicht zu einem schleichenden Übergang in eine Schuldenunion führen.

Europa zuliebe sollte die Klärung finanzpolitischer Grundsatzfragen zügig angegangen werden. Es schadet der Sache, sie mit unsachgemäßem „Seid umschlungen Millionen“-Pathos auf eine immer längere Bank zu schieben.

13. Jänner 2022

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