Europas Aktienmärkte müssen zweifellos leistungsfähiger werden - wir sollten das finanz-kapitalistisch gesteuerte US-Modell jedoch nicht unkritisch übernehmen.
Wer fortsetzt, was er schon bisher getan hat, erregt selten Aufmerksamkeit. Anders ist das bei Notenbanken. Deren Beharren auf einer nun schon seit gefühlten Ewigkeiten praktizierten Nullzinspolitik sorgt für Aufsehen. Auch dass die EZB weiterhin Staatsanleihen in monatlichen Größenordnungen von 80 Milliarden Euro ankauft, obwohl die damit vorgeblich angepeilte Mindest-Inflations-Schwelle von 2 Prozent längst überschritten ist, lässt die Köpfe rauchen.
Selbst wenn der richtige Zeitpunkt zum Ausstieg aus dem Krisenmodus schon überschritten sein mag, will man Überreaktionen an den Aktien- und Anleihebörsen um jeden Preis vermeiden und die endlich eingetretene konjunkturelle Erholung nicht gefährden. Das nicht zuletzt durch abrupte Zinssteigerungen ausgelöste Platzen der „New-Economy-Bubble“ um die Jahrtausendwende und die Finanzkrise 2008 sind noch in allzu guter Erinnerung.
SparerInnen, die sich in der Inflations- und Nullzinsfalle eingesperrt fühlen, werden zuletzt immer häufiger durch Banken und Politik dazu ermuntert, doch endlich Aktien als Investitions-Alternative zu entdecken. Es liege nur an ihnen selbst, Alternativen zum Sparbuch auszuprobieren und zu lernen, wie Geldvermehrung funktioniert. Dass sie damit deutlich größere Risiken eingehen und von der am Ende doch unvermeidbaren Kurskorrektur doppelt betroffen wären, wird meist nicht dazugesagt.
Auch Unternehmen werden – wie zuletzt beim Forum Alpbach – dazu gedrängt, endlich mehr Aufgeschlossenheit gegenüber dem Kapitalmarkt zu zeigen. Nur so wäre Risikokapital für rasches Wachstum auf den Weltmärkten mobilisierbar. So richtig das dem Grund nach auch sein mag: es sollte nicht unterschlagen werden, dass der Schwenk europäischer Spitzenunternehmen zu den Spielregeln der angloamerikanischen Finanzierungskultur auch mit möglichen Nachteilen verbunden wäre.
Die kurzatmige Orientierung an Quartalsberichten, die faktische Abgabe der strategischen Hoheit an längst übermächtige Investitionsfonds, der mit der Verdrängung von längerfristig denkenden und handelnden Familienunternehmen einhergehende Substanzverlust an unternehmerischen Tugenden: all das macht am Ende auch etwas mit der Verfasstheit unserer Gesellschaft. Dieser Wandel muss daher politisch klug begleitet werden.
Auch wenn das in Grundsatzdebatten meist zu kurz kommt: Europa fährt gut mit seinem Modell einer inklusiven Ökonomie, die Wertschöpfung mit sozialem Ausgleich verbindet. Es steht damit in messbarem Kontrast zum finanzkapitalistisch gesteuerten US-Modell, das jedenfalls nicht ungeprüft und ohne Rücksicht auf unerwünschte Nebenwirkungen propagiert werden sollte. Es braucht einen Spielregel-Rahmen, der systemische Krisen im Zaum zu halten hilft und das Versprechen weiterhin erfüllbar macht, dass aus marktwirtschaftlicher Wertschöpfung „Wohlstand für alle“ (© Ludwig Erhard) geschaffen werden kann. Dieses zentrale sozial-ökonomische Element europäischer Identität sollten wir nicht leichtfertig aufgeben.
16. September 2021