die furche - 298

Bilanzbetrügereien und Lehren daraus

Der Fall Wirecard erzwingt die Umsetzung längst überfälliger Finanzmarkt-Reformen.

Es war eine Sensation, als Wirecard im September 2018 den Aufstieg in den Aktienindex DAX, die oberste Spielklasse der deutschen Börse, schaffte. Ausgerechnet die traditionsreiche Commerzbank – nein, nicht „Commerzialbank“! – musste dem gefeierten Newcomer in dem auf 30 Mitglieder limitierten Club der höchst bewerteten deutschen Unternehmen Platz machen.

 Schon damals entdeckten Finanzmarktprofis, die sich offensichtlich gründlicher als die damit beauftragten Wirtschaftsprüfer mit den Bilanzen des Börsenstars befassten, schwerwiegende Widersprüche im veröffentlichten Zahlenwerk. Man nahm diese Spielverderber jedoch entweder nicht ernst oder verfolgte sie gar wegen Rufschädigung. Auch die deutsche Finanzmarktaufsicht entschied sich aus falsch verstandenem Finanzplatz-Patriotismus fürs Wegschauen. Mittlerweile steht fest, dass das Management Milliarden-Guthaben auf Treuhandkonten bei philippinischen Banken betrügerisch vorgetäuscht hat.

Der aus Wien stammende Firmenchef Markus Braun hatte im Zusammenspiel mit seinem seit Auffliegen des Betrugs abgetauchten Alter Ego Jan Marsalek Geschäftswelt, Medienleute und Politiker jahrelang geblendet. Niemand konnte und wollte erahnen, dass er die auf grenzlegale Bilanzierungspraktiken anspielende Silicon-Valley-Parole „Fake it till you make it“ wörtlich nahm. Deshalb ist es auch allzu billig, im Nachhinein den Klügeren zu spielen und all jenen, die mit dem ob seiner Tüchtigkeit bewunderten Aufsteiger in Kontakt standen, daraus einen Vorwurf zu machen.

Zum immensen Sachschaden kommt nun ein immenser Reputationsschaden der Frankfurter Börse. Auch wird mit dem Scheitern von Wirecard der Rückstand Europas gegenüber dem Quasi-Monopol der führenden digitalen US-amerikanischen Plattformen nur noch deutlicher. Die Corona-Krise beschleunigte nämlich in ungeahnter Weise die Durchsetzung der neuen Technologien. Ausgerechnet jetzt, mitten in der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, durchbrechen deshalb die großen Vier (Amazon, Apple, Facebook und Google) alle traditionellen Bewertungs-Schallmauern. Europa tut sich mit seinen fragmentierten Kapitalmärkten schwer, konkurrenzfähige Gegenpole aufzubauen, zumal von der Ambition, endlich eine „Kapitalmarktunion“ zu schaffen, zuletzt nur mehr wenig zu hören ist.

Der Fall Wirecard könnte aber wenigstens Anlass für längst überfällige, wirksame Maßnahmen gegen künftige Missbräuche des Systems sein. So sollten etwa Wirtschaftsprüfer von Finanzgesellschaften nicht mehr durch die zu prüfende Unternehmung, sondern durch die Aufsichtsbehörden bestellt werden. Auch bedarf es endlich länderübergreifender Transparenz zur wirksameren Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung, damit Datenschutz nicht zum Täterschutz verkommt.

All das und noch mehr wäre bei gutem Willen kostenlos zu haben. Allerdings fällt im vielstimmigen europäischen Gefüge die Überwindung nationaler Sonderinteressen meist noch schwerer als das Auftreiben zusätzlicher Gelder.

06. August 2020

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