Die alte Vorläuferversion von Unübersichtlichkeit war harmlos gegen das, womit wir heute angesichts der geopolitischen Orientierungs-losigkeit des Westens konfrontiert sind.
1985 erschien im deutschen „Merkur“ ein berühmt gewordener Text des Philosophen Jürgen Habermas über „Die neue Unübersichtlichkeit“. Sein Untertitel lautete: „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“. Im Kern ging es darin um die Zerrissenheit des Zeitgeistes zwischen Geschichte und Utopie, aber auch um ein abnehmendes Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst.
Dass Habermas nur wenige Jahre vor dem Glücksfall der Ostöffnung und der unmittelbar darauf einsetzenden, von anfänglichem Optimismus getragenen Globalisierung eine so ernüchternde Diagnose stellte, erscheint aus heutiger Sicht merkwürdig unzeitgemäß. Sind es nicht wir Heutigen, die sich - dreieinhalb Jahrzehnte später –erst so richtig als Zeitgenossen einer neuen Unübersichtlichkeit vorkommen müssen? War die alte Vorläuferversion von Unübersichtlichkeit nicht geradezu harmlos gegen das, womit wir in unserer politisch zusehends fragmentierten Welt aktuell konfrontiert sind?
Seit die Münchner Sicherheitskonferenz unter dem Generalmotto „Westlessness“ stattfand, hat diese Befindlichkeit sogar einen Namen. Die kreative Neuwortschöpfung fand sofortige mediale Verbreitung, bringt sie doch die mit den Händen zu greifende geopolitische Orientierungslosigkeit des „Westens“ trefflich auf den Punkt.
Außenpolitik erschöpft sich zusehends in der Erhöhung von Verteidigungs-Budgets. Allein im vergangenen Jahr wuchsen die US-Militärausgaben um 53,4 Milliarden Dollar – so viel wie die Ausgaben Großbritanniens, dem Land mit dem viertgrößten Militärhaushalt, in einem ganzen Jahr. Der amerikanische Präsident hob das Landminenverbot auf, lässt – ebenso wie Russland – nach neuen atomaren Waffensystemen forschen und drohte kürzlich nach dem Einsatz von Drohnen gegen einen General des gegnerischen Iran offen mit einem Angriff auf dessen wichtigste kulturelle Stätten. Im fünfundsiebzigsten Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit all seinen Verheerungen machen solche Töne fassungslos. „Westlessness“ wird hier zur unverhüllten „Recklessness“.
Wir reiben uns die Augen und finden uns in der Stimmungslage eines längst überwunden geglaubten „Kalten Krieges“ wieder – nur mit dem Unterschied, dass diesmal nicht zwei hochgerüstete Militärblöcke mit ihren Verbündeten einander gegenüber stehen, sondern neben den USA, Russland und China eine wachsende Zahl waffenstarrender Mittelmächte, die mit wechselnden Allianzen ihr Kriegsglück suchen.
Friede wird wieder zum kostbarsten sozialen Gut. Er lässt sich nicht durch verstärkte Aufrüstung sichern, sondern nur durch ernsthafte Bemühungen um tragfähige Kompromisse und pragmatische Zweckbündnisse. Das Verhandlungs-Schach um das kommende EU-Budget sollte uns gerade deshalb nicht davon ablenken, dass es mitten in all der „Westlessness“ an Europa liegt, seinen Werte-Kern neu zu entdecken und darauf aufbauend endlich eine eigenständige Außenpolitik zu entwickeln.
Erst wenn das eines Tages gelingt, kann es wieder übersichtlicher werden.
20. Februar 2020