Ob und wie sich Europa in der Systemkonkurrenz zwischen dem amerikanischen Finanzkapitalismus und dem autoritär-kapitalistischen Regime Chinas behaupten kann, ist eine zentrale Zukunftsfrage.
„Hüte dich vor Reformkommunisten, die sich zu Kapitalisten entwickeln“: diese strikte Parole des Mao Tse-Tung blockierte den von ihm versprochenen „Großen Sprung nach Vorne“ in den von Hungersnöten und Klassenterror gezeichneten Anfangsjahren der Volksrepublik China. Erst nachdem sein Nachfolger Deng Xiaoping das Riesenreich aus der Isolation befreit hatte, schafften es mehr als 800 Millionen Menschen aus bitterer Armut zu bescheidenem Wohlstand. Allein im letzten Jahrzehnt verdreifachte sich die Wirtschaftsleistung des größten Exportlandes der Welt. Die ökonomische Zwischenbilanz Chinas ist jedenfalls imposanter als die bombastische Militärparade, mit der Staatschef Xi Jinping in diesen Tagen das 70-jährige Gründungsjubiläum des bevölkerungsreichsten Staates der Erde feiern ließ.
Chinas steiler Aufstieg führte vom Billiglohn-Standort in den ersten Sonderwirtschaftszonen über die Rolle als Werkbank vieler der weltbesten Konzerne hin zu einer höchst innovativen Ökonomie. Staat und Partei entwickelten durch Ausbau der Infrastruktur und Anreize für Unternehmen einen global vernetzten Wirtschaftsstandort, an dem mittlerweile über 40 Prozent der weltweiten Patente registriert werden. Dass der Anteil Chinas am Welt-Sozialprodukt schon vor 200 Jahren bei über 25 Prozent lag, ist eine Pointe der Wirtschaftsgeschichte. Denn genau so weit ist man auch heute wieder.
Die Ambitionen Xi Jipings reichen jedoch weit darüber hinaus. Mit den Infrastruktur-Projekten der „Neuen Seidenstraße“, die bis vor unsere Haustür in Triest und Bratislava führen, verfolgt er das Ziel globaler Vernetzung und Hegemonie. Damit steht er in direkter Konkurrenz zu den ihre multilaterale Führungsrolle immer weniger wahrnehmenden USA. Weltmacht zu sein durch Eröffnung von Wachstumschancen gegen entsprechende Rückverpflichtung: dieses Erfolgsrezept hat nun schon zwei Väter.
Aber wir wissen in Wirklichkeit nur wenig vom neuen Reich der Mitte und wie wir sein Wirtschaftssystem eigentlich bezeichnen sollen. Schon die Politikwissenschaft scheint hier etwas ratlos, weil die sich aufdrängende Bezeichnung „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ bereits vergeben ist. Westliche Marxisten verstehen darunter nämlich die Endphase „unseres“ Kapitalismus und somit gerade das Gegenteil dessen, was sich derzeit in China tut.
Ökonomen sind jedoch nicht weniger verlegen, da doch die vertraute Zweiteilung in Markt- und Planwirtschaften seit dem Fall des Eisernen Vorhanges längst Geschichte ist. Die neue Systemkonkurrenz spielt sich zwischen den demokratischen Markt-Gesellschaften des Westens und autoritär-kapitalistischen Regimen ab. Deren erfolgreichste Spielart ist das konfuzianisch-marxistische Modell Chinas.
Die große europäische Frage der allernächsten Zeit wird sein, wie wir künftighin unser eigenständiges europäisches Modell einer Sozialen Marktwirtschaft gegenüber dem amerikanischen Finanzkapitalismus und der diktatorischen chinesischen Spielart behaupten können.
10. Oktober 2019