die furche - 269

Skepsis gegenüber Sternstunden

Schwarmintelligenz und Opportunismus liegen in Wahlkampfzeiten noch knapper beieinander als in Normalzeiten. Schon deshalb stimmen mich die vermeintlichen “Sternstunden des Parlamentarismus” eher skeptisch als euphorisch.

„Zack-Zack-Zack“ hätte das im Ibiza-Speech wohl geheißen. So schnell ging die Ablöse der eben erst ernannten Interims-Regierung vor sich, dass gar keine Zeit blieb, diesen Vorgang kritisch zu würdigen. Er liegt ja auch, gemessen am Veränderungstempo der letzten Wochen, schon wieder fast eine Ewigkeit zurück. Umso schleppender fühlt es sich jetzt an. Während in Griechenland, wo Neuwahlen erst am 26. Mai ausgerufen wurden, bereits am 7. Juli gewählt wird, müssen wir uns vier Monate gedulden.  

Andererseits bleibt uns um den Preis all dieser Turbulenzen wohl viel weiteres Ungemach erspart. Etwa seitens jenes mittlerweile entlassenen Innenministers, der Flüchtlingslager in „Ausreisezentren“ umbenannt hatte. Umso befremdlicher, dass es dem Überzeugungstäter gelingen konnte, innerhalb weniger Tage in die Rolle des Angreifers überzuwechseln. Er versteht eben viel von Wahlkämpfen und davon, wie man – Wahrheit hin, Wahrheit her – einen bestimmten „Spin“ erzeugt. Die im Couloir des Parlaments mit dem ehemaligen sozialdemokratischen Hauptgegner abgestimmte Verschiebung der Herbstwahl auf den spätestmöglichen September-Termin gibt ihm nun die Chance, dieses Spiel in die Länge zu ziehen.

Nicht zuletzt deshalb stimmen mich die vermeintlichen „Sternstunden des Parlamentarismus“ – von Ausnahmen wie dem Rauchverbot in der Gastronomie und der Chance auf eine menschenfreundliche Lösung für Asylanten-Lehrlinge einmal abgesehen – eher skeptisch als euphorisch. Zumal Schwarmintelligenz und Opportunismus gerade in Wahlkampfzeiten noch knapper beieinanderliegen als in Normalzeiten. 

Die entscheidenden Weichen jedoch werden in den kommenden Monaten auf europäischer Ebene gestellt. Dass dies ausgerechnet in der Zeit des heimischen Regierungs-Provisoriums zu geschehen hat, ist zweifellos von Nachteil. Denn es geht dabei um wesentlich mehr als bloße personelle Neuerungen. Einerseits erzwingen die anhaltenden Folgewirkungen der Finanzkrise eine Änderung der Spielregeln, andererseits verlangen Ökologie-, Migrations- und Technologiefragen nach neuen, entschlossenen Antworten. Spätestens bei Konkretisierung der nächsten Erweiterungsschritte bedarf überdies die Verfassung Europas einer grundlegenden Überarbeitung, ist sie doch von jener „Eleganz“, die UHBP zu Recht der unsrigen zuschreibt, noch weit entfernt. 

Die Koalitionsverhandlungen nach der Herbstwahl werden im Übrigen durch die bisher wenig beachtete Tatsache mitbestimmt sein, dass sich die FPÖ durch ihre Positionierung mit Lega, Le Pen und der AfD im Lager der Nationalisten als Koalitionspartner nicht nur für SPÖ, Neos und Grüne, sondern auch für die ÖVP faktisch aus dem Spiel genommen hat. Die während des EU-Vorsitzes noch einigermaßen praktikable europapolitische Rollenteilung lässt sich nämlich nicht wiederholen – und die inhaltliche Kluft in Europafragen ist mittlerweile so evident unüberbrückbar, dass sich eine Prolongation des Nestroy´schen Spiels „Wer ist stärker – Ich oder Ich“ schlicht nicht mehr ausgeht.  

19. Juni 2019

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