Die erzwungene Totalauflösung der Regierung lähmt den innen- und europapolitischen Spielraum Österreichs. Ob es klug war, damit sämtliche Brücken für künftige Kooperationen abzubrechen?
An jenem Freitagabend vor kaum zwei Wochen war ich gerade erst von einer Reise zur Biennale in Venedig heimgekehrt. Bekanntlich lautet deren beziehungsvolles Motto heuer in Anlehnung an ein chinesisches Sprichwort: „Mögest du in interessanten Zeiten leben“. Um 18h00 wurden dann im ORF jene Filmausschnitte gezeigt, welche es binnen Stunden zu mehr internationaler Bekanntheit gebracht haben als irgendeines der vielen KünstlerInnen-Videos, mit denen ich gerade erst in den Pavillons der Giardini Bekanntschaft gemacht hatte.
Die Folgen der Ausstrahlung der politisch relevanten Ausschnitte des siebenstündigen Streifens haben alles zunächst Erwartbare übertroffen. Mit einem Mal gab es nicht nur einen unabweisbaren Grund für Rücktritte des Vizekanzlers und seines Klubobmanns, sondern auch begründeten Anlass, sich von einem Innenminister zu trennen, der seit dem BVT-Skandal zu einem immer akuteren demokratiepolitischen Sicherheitsrisiko geworden war. Kickl, der Mann fürs Grobe, hatte sich zuletzt in Phantasieuniform inszeniert und immer mehr Signale gesetzt, die dem sozialen und humanitären Grundkonsens unseres Landes fundamental widersprechen. Zum augenscheinlichen Symbol dafür wurde die zynische Umbenennung des Flüchtlingslagers Traiskirchen in ein „Ausreisezentrum“.
Dass überdies Verteidigungsminister Kunasek ohne nähere Information der Öffentlichkeit Verbindungsoffiziere in „zivile“ Ministerien entsandte, wie wir erst vor wenigen Wochen erfahren mussten, passte ins Bild, fiel aber schon gar nicht mehr auf.
Im Zusammenwirken mit dem staatspolitisch umsichtig agierenden Bundespräsidenten agierte der Bundeskanzler inhaltlich und personell schlüssig. Zu den von ihm für die Übergangsperiode bis zur Wahl vorgeschlagenen Interims-Ministern zählten so ausgezeichnete Persönlichkeiten wie der ehemalige Höchstrichter Eckart Ratz, der beherzt gleich am ersten Tag seines Wirkens die inakzeptable 1,50-Euro-Regelung für freiwillige Asylantenarbeit aufhob.
Das Ergebnis der Europa-Wahl zeigte, dass die Wählerschaft dem Bundeskanzler seine wenngleich späte, so doch gründliche Abgrenzung gegenüber der äußeren Rechten glaubt. Die Sozialdemokraten jedoch wollten den von Kurz gemeinsam mit Van der Bellen eingeschlagenen Lösungsweg nicht zur Kenntnis nehmen. Sie bestanden auf Total-Auflösung der Regierung und begründeten diese über den ursprünglichen Misstrauensantrag der Pilz-Liste weit hinausgehende Risikostrategie mit dem Bedürfnis nach „Stabilität“. Ob es wenigstens parteitaktisch richtig war, damit gleich sämtliche Brücken für künftige Kooperationen abzubrechen, wird sich nach der Neuwahl zeigen. Der ÖVP wiederum darf es nicht erspart bleiben, noch im Vorfeld klarzustellen, dass sie eine neuerliche Zusammenarbeit mit ihrem bisherigen Koalitionspartner ausschließt.
War es bloßer Zufall, dass ausgerechnet im verlängerten OE1-Morgenjournal vom vergangenen Montag der sonst nur selten gespielte „Trennungs-Walzer“ von Joseph Lanner zu hören war?
29. Mai 2019