Die Gefahr der Überforderung durch disruptive Veränderungen ist groß. Einzusehen, dass nicht alles in absehbarer Zeit in taugliche Ergebnisse für Alle münden muss, kann aber auch entlastend sein.
Technologien, die herkömmliche Produktionsabläufe obsolet machen, werden als disruptiv bezeichnet. Die Geschichte des Aufbrechens gewohnter Wertschöpfungsketten reicht von der Dampfmaschine über die ersten Rechenmaschinen bis herauf zu den neuesten Digitaltechniken – und sie wird ständig neu geschrieben. Diesen Vorgang nannte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter einst „Schöpferische Zerstörung“.
Das Erinnerungsjahr 2018 hat uns nun eindrücklich vor Augen geführt, dass es auch in den gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder disruptiv zugeht. Denn der Blick zurück in die Geschichte zeigt schonungslos, dass das jeweils Erreichte zu keinem Zeitpunkt als dauerhaft angesehen werden durfte. Nach den Worten des französischen Geschichts-Literaten Eric Vuillard, der in seiner „Ballade vom Abendland“ die verheerenden Wirrnisse des Ersten Weltkrieges schildert, ist „nichts, wirklich gar nichts, außer Gefahr, sich eines Tages in sein Gegenteil zu verkehren“. Noch dazu geht es bei sozialen Disruptionen – im Unterschied zur Ökonomie – meist um irreversible Zerstörungen, denen der hoffentlich nachfolgende schöpferische Neubeginn erst mit großen Mühen abgerungen werden muss.
Damit unverzichtbare soziale und demokratiepolitische Fortschritte von heute nicht gefährdet werden, muss deshalb permanent erneuert und nachgebessert werden. Zugleich wächst jedoch die Gefahr der Überforderung mit den sich häufenden bruchhaften Veränderungen – egal ob es sich um die drohende Klimakatastrophe dreht, die aus heiterem Himmel wieder aufgetauchte Debatte über eine mögliche atomare Bedrohung, oder das immer wieder gefährdete europäische Projekt. Es fällt zunehmend schwerer, zwischen den sich auftürmenden Problemgebirgen begehbare Pfade gesellschaftlichen Zusammenhalts auszumachen.
Vielleicht sollten wir uns deshalb gerade in der adventlichen Erwartung eines immer wieder möglichen Neubeginns gestatten, unsere partielle Ohnmacht gegenüber unkontrollierbaren Entwicklungen einzugestehen und in Demut zu verwandeln. Einzusehen, dass nicht alles in absehbarer Zeit in taugliche Ergebnisse für Alle münden muss, kann auch entlastend sein. Jetzt gibt es die Gelegenheit, jene kostbaren Wertespeicher neu aufzufüllen, die uns vielleicht wieder ermöglichen, komplexe Problemlagen so einzuordnen, dass daraus neue Schlüsse für richtiges Handeln gezogen werden können. „Ver-Gewisserung“ wäre ein schönes Wort dafür.
Condoleezza Rize, ehemalige Außenministerin der Vereinigten Staaten, meinte dazu einst in einem sehr persönlichen Interview: „Ich frage mich zuweilen, ob unsere Seele mit den vielen Neuerungen mithalten kann. Einst war es die Religion, die dem Menschen Halt gab. Moderne Gesellschaften tendieren hingegen dazu, zu denken, dass sie auf Religionen verzichten können. Ich bin jedoch überzeugt, dass Menschen etwas brauchen, das größer ist als sie selbst. Wenn es nicht mehr die Religion ist, was dann?“
20. Dezember 2018