Aus der Perspektive jener, die zu Marx’ Zeiten unter frühkapita-listischen Verhältnissen zu leiden hatten, muss die wohlfahrts-staatliche Wirklichkeit von heute als pure Utopie erscheinen.
Was für eine Ironie der Geschichte: anlässlich der zweihundertsten Wiederkehr seines Geburtstags enthüllte man in Trier eine überlebensgroße Karl-Marx-Statue. Die Heimatstadt des geistigen Vaters des Kommunismus verdankt das bronzene Jubiläumsgeschenk ausgerechnet jener Volksrepublik China, deren Staatschef unter Berufung auf Marx eine absolutistische Mischform von Diktatur und Kapitalismus vorantreibt. Außer vereinzelten lokalen Protesten kam es zu keiner grundsätzlichen Infragestellung der doch etwas sonderbar anmutenden Gabe.
Kaum drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion praktisch aller an der planwirtschaftlichen Doktrin gescheiterten Volkswirtschaften des ehemaligen Ostblocks, scheint in meinungsbildenden Kreisen in Vergessenheit zu geraten, was die Marx´sche Doktrin in der realsozialistischen Praxis angerichtet hat. Dass kommunistische Parteien bei Wahlen in freien Ländern nach all den wirtschafts- und demokratiepolitischen Katastrophen der Vergangenheit aus guten Gründen keine nennenswerten Wählerschaften hinter sich versammeln können, beeindruckt sie wenig.
Die Anschauungsbeispiele der sich auf denselben Ahnherrn berufenden Links-Diktaturen Venezuelas oder Nordkoreas scheinen für einen Denkmalsturz auch nicht auszureichen. Da und dort kippt die mediale Stimmung vielmehr in ein geradezu kokettes Interesse an umstürzlerischen Fantasien, die sich allesamt gegen den sogenannten Neoliberalismus, die Digitalisierung, die Globalisierung und natürlich die mit all diesen Phänomenen angeblich zwangsläufig verbundene Ausbeutung richten.
Wie ist so viel Geschichtsvergessenheit möglich? Wie kommt es, dass wir an unsere eigene sozial-marktwirtschaftliche Erzählung nicht mehr glauben und die Augen vor dem Augenscheinlichen verschließen: dass nämlich aus der Perspektive jener, die zu Marx Zeiten unter frühkapitalistischen Verhältnissen zu leiden hatten, die Arbeits- und Sozialwelt von heute eine wohl einzigartig hoch entwickelte, wohlfahrtsstaatliche Wirklichkeit abbildet, die aus damaliger Sicht pure Utopie gewesen wäre. Ist es wirklich so schwer, reale, messbare Fortschritte in der Lebensqualität anzuerkennen?
Dass es viele noch offene Probleme gibt und sich ständig neue auftun, ist nicht zu leugnen. Aber sie lassen sich benennen, analysieren und durch Anwendung kluger Spielregeln, die immer neu nachjustiert werden müssen, mit ernsthafter politischer Arbeit schrittweise lösen. Sozialdemokratische, christdemokratische und liberale Parteien haben das auch bisher erfolgreich bewerkstelligt. Das unterscheidet den europäischen Wirtschaftsstil ganz wesentlich von einem auch zehn Jahre nach Ausbruch der Krise noch immer nicht gezähmten Finanzkapitalismus amerikanischen Zuschnitts.
Die entschlossene Weiterentwicklung der in weiten Bereichen funktionierenden Realutopie einer ökologisch verantworteten und sozial ausgewogenen Marktwirtschaft sollte uns jedenfalls mehr beschäftigen als die Retro-topien neo-marxistischer Weltenrettung.
10. Mai 2018