Politische Gedenkjahre lassen uns bisher unbekannte Seiten im Buch der Geschichte entdecken. Neue Erkenntnisse fördern die Überwindung allzu simplistischer Sichtweisen historischer Ereignisse und öffnen den Blick auf größere Zusammenhänge. So weicht der seit der Waldheim-Affäre geführte Kampf gegen den „Mythos“ von Österreich als erstem Opfer von Hitlers brutaler Machtpolitik mittlerweile einer differenzierteren Interpretation der Ereignisse von damals. Denn es kann als unbestritten gelten, dass die Geschehnisse des März 1938 nicht ohne den Blick auf 1918 zu begreifen sind.
Nach dem Zusammenbruch der „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) und der Auflösung der Habsburger-Monarchie in Nationalstaaten entstand bekanntlich zunächst die „Republik Deutsch-Österreich“. Ihre Verfassung legte fest, dass sie in Hinkunft „Bestandteil der Deutschen Republik“ sein sollte. In der Koalitionsregierung des sozialdemokratischen Kanzlers Karl Renner herrschte weitgehender, allparteilicher Konsens darüber, dass der deutschsprachige Rest des Vielvölkerstaates allein nicht lebensfähig wäre.
Auch Denker und Dichter wie Robert Musil empfahlen den Anschluss an Deutschland, wenn Österreich nicht zum „Europäischen Naturschutzpark für vornehmen Verfall“ verkommen wolle. Erst der katastrophal unausgewogene Friedensvertrag von St.Germain – Österreich war am Verhandlungstisch gar nicht zugelassen – erzwang im September 1919 den Verzicht auf den geplanten Zusammenschluss. „Kein Friede, sondern Tod für Österreich“ titelte damals die Arbeiterzeitung resignierend.
Es folgten Jahre innerer Zerrissenheit und verzweifelten Ringens um eine österreichische Identität. In Gewaltbereitschaft abdriftende „Idealisten“ der unversöhnlichen politischen Lager versuchten ihre aus der Orientierungslosigkeit geborenen Rettungs-Visionen um fast jeden Preis durchzusetzen: zur höheren Ehre Gottes oder der Arbeiterklasse oder eben der deutschen Nation.
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 setzte Nazi-Deutschland den kleinen österreichischen Nachbarn immer stärker unter Druck. Als dann Bundeskanzler Schuschnigg endlich bereit war, mit den im Ständestaat verbotenen Sozialdemokraten ein Bündnis gegen Hitler zu schließen, war es dafür schon zu spät. Es gilt als sicher, dass die von ihm ausgerufene Volksabstimmung zugunsten von Österreichs Unabhängigkeit ausgegangen wäre. Hitler verhinderte diese Entscheidung und usurpierte das von den europäischen Mächten in der Stunde der Not vollkommen im Stich gelassene Nachbarland. Auch jene großdeutsch Denkenden, die keine Nazis waren, sahen darin den schicksalhaften Vollzug einer seit 1918 manifesten geschichtlichen Notwendigkeit.
Die „Gnade der späten Geburt“ zu genießen, ist ein Privileg. Gerade deshalb darf uns die intensive Vergangenheitsbetrachtung nicht von den demokratiepolitischen Gefahrenherden von heute ablenken. Ob wir die Freiheit, wachsam zu sein, auch ausreichend nützen, werden spätere Beobachter unserer Zeit mit ihrer Weisheit des Rückblicks zu beurteilen haben.
15. März 2018