Mitten im Wahlkampf um das amerikanische Präsidentenamt bot mir eine private Reise nach Kalifornien die Gelegenheit, mein Bild vom Land der unbegrenzten (Un-)Möglichkeiten aufzufrischen. Ich nahm mir vor, es nicht nur in jenen dunkelgrellen Farben wahrzunehmen, die dem unsäglichen Niveau der politischen Auseinandersetzung entsprechen. Bald aber ließ die vorherrschende Tonlage ernsthafte Fragen nach dem inneren Zustand der führenden westlichen Macht aufkommen. Niemand weiß derzeit, wie man nach all den gegenseitigen Abwertungen wieder zu einer Grundachtung gegenüber den gewählten Repräsentanten zurückfinden will.
Noch mehr Nachdenklichkeit lösten bei mir jedoch die Eindrücke jener Menschen vom untersten Ende der sozialen Pyramide aus, die das amerikanische Alltagsbild selbst in Gegenden prägen, die ich für wohlgeordnet und sozial ausgeglichen gehalten hatte – etwa in Venice-Beach bei Los Angeles oder im Zentrum von Hollywood. Die Verwahrlosung ganzer Viertel, das Nebeneinander drastischen Elends mit den überteuerten Aufsteiger-Quartieren der New Economy, die offenkundige Mühe des Mittelstandes, sich über die Bedrohungen ungesteuerter Globalisierung und Digitalisierung hinüberzuretten, prägen sich dem Europäer ein.
Ganz anders die Assoziationen beim Besuch jener Villa Aurora im Küstenort Pacific Palisades, die der Schriftsteller Lion Feuchtwanger mit seiner Frau Marta nach seiner Flucht vor den Nazis ab 1943 bewohnte. Eine deutsche Stiftung lädt dorthin junge Künstler aus aller Welt zu mehrmonatigen, schöpferischen Aufenthalten ein. In einem der zahlreichen Bibliotheksräume der ehemaligen Dichterresidenz findet sich sogar ein originaler Schreibtisch Franz Werfels, mit dem die Feuchtwangers im Exil ebenso befreundet waren wie mit Heinrich und Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Hanns Eisler oder Max Horkheimer.
Dass ihnen seinerzeit die Flucht aus dem von deutschen Truppen besetzten Frankreich gelang, hatten die vertriebenen Künstler beherzten Helfern aus den USA zu verdanken. Diese sorgten entgegen der restriktiven Einwanderungspolitik ihrer Regierung unter hohen persönlichen Risiken dafür, dass wenigsten ein Teil der verfolgten Intelligenz des alten Europa Zuflucht in der Neuen Welt finden konnte.
Noch vor wenigen Jahren hätten diese längst vergangenen Ereignisse keine gedankliche Verbindung zur aktuellen zeitgeschichtlichen Lage nahegelegt. Die wachsende der Zahl von Ländern, in denen unabhängig denkende und handelnde Menschen verfolgt werden, drängt jedoch unabweisbare Parallelen auf. Das Eis der Zivilisation ist noch nicht so dünn wie in den Dreißigerjahren, bevor die politische Mitte verlorenging und die politischen Extreme in die Katastrophe führten. Umso vordringlicher wären ernsthafte Anstrengungen, das politische System im Bewusstsein der Kostbarkeit demokratischer Freiheiten gründlich zu erneuern. Die USA sind gerade dabei, uns auf absehbare Zeit als Vorbild für solche Erneuerungsschritte abhanden zu kommen. Wer in Europa wagt sich daran?
14. Oktober 2016