die furche - 189

Am demokratiepolitischen Scheideweg

 

Wie merkwürdig ruhig es doch um das Thema Mehrheitswahlrecht geworden ist! Immer, wenn sich die Koalitionsparteien wieder einmal in gegenseitiger Blockade übten, hatte in den vergangenen Jahren – dem Vorbild Englands folgend – die Idee Hochkonjunktur, jeweils einer der beiden traditionellen Volksparteien des linken und rechten Wählerspektrums die Chance auf Bildung einer handlungsfähigen, weil nicht auf Parteienkompromisse angewiesenen Regierung zu geben. Davon ist allerdings aus nachvollziehbaren Gründen nichts mehr zu hören, seit sich die Wählerlandkarte zusehends blau einfärbt. Die Zeit für die Einführung eines Mehrheiten begünstigenden Wahlrechts ist wohl ebenso vorbei, wie die Chance auf eine damit letztlich beabsichtigte Stabilisierung eines faktischen Zwei-Parteien-Systems.

Auch andere Versuche bruchstückhafter Verfassungsreformen erwiesen sich als wenig erfolgreich. So führte die erst 2007 von den (damals noch über eine gemeinsame Verfassungsmehrheit verfügenden!) Großparteien eingeführte Dehnung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre ganz offensichtlich nicht zu der in Aussicht gestellten Verlängerung der von Wahlkämpfen freien, für die politische Sacharbeit verfügbaren Arbeitszeit der Bundesregierung. Ganz im Gegenteil: es werden schon wieder Neuwahlen herbeigeredet.

Grundvernünftige Vorschläge für eine Gesamterneuerung der Verfassung, die der von Bundeskanzler Schüssel eingesetzte Verfassungskonvent 2005 vorgelegt hatte, wurden hingegen zum allergrößten Teil nicht umgesetzt. Obwohl die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit auch damals noch an der Hand gewesen wäre, fanden sich Reformgegner aus Bund und Land, die das in Bezug auf Föderalismus- und Verwaltungsreform höchst ambitionierte Vorhaben im stillschweigenden Einvernehmen in einen Unterausschuss des Verfassungsausschusses zur Verwaltungsreform verräumten. Dort wurde es der Nicht-Erledigung zugeführt.

Nun wirbt ein nicht zuletzt in Folge der Flüchtlingskrise chancenreicher Präsidentschaftskandidat damit, den in vielen Bereichen spürbaren Reformstau zu überwinden, indem er die Regierungs- und Gesetzesarbeit künftig in Volkes Auftrag laufend überwacht und beschleunigt. Weit weg vom gewohnten Amtsverständnis eines möglichst überparteilich agierenden Notars der Republik steuert er schnurstracks in Richtung Präsidialdemokratie.

Ich hielte dieses Experiment für demokratiepolitisch höchst riskant. Denn die zweite Republik ist insgesamt gut damit gefahren, auf politische Überväter zu verzichten. Auch rechtfertigt die Tatsache, dass Vieles nicht befriedigend funktioniert, noch keinen grundlegenden Systemwechsel. Schon gar nicht unter Federführung einer Partei, mit der zutiefst anti-europäische und nationalistische Reflexe in die Hofburg ziehen würden.

Aber wie immer diese Wahl ausgeht: an substantiellen Reformen, die weniger Parteienabhängigkeit, mehr Mitbestimmung und eine Modernisierung unserer aufgeblähten Verwaltungsstrukturen mit sich bringen, führt spätestens jetzt kein Weg mehr vorbei. 

12. Mai 2016

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