Ach Europa! Dieser Seufzer mit Rufzeichen steht für die wachsende Sorge darüber, dass Brüssel zusehends in argumentativen Parallelwelten agiert. Man nimmt in wesentlichen Politikfeldern unangenehme Wirklichkeiten oder eigene Versäumnisse nicht zur Kenntnis und verhindert damit sachgerechte Lösungen.
Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür ist die bis zuletzt aufrecht erhaltene Fiktion einer gesamteuropäischen „Flüchtlingsquote“. Bekanntlich konnten von 160.000 davon erfassten Asylsuchenden bis heute keine Tausend untergebracht werden, weil zahlreiche EU-Staaten ihre Mitwirkung verweigern. Anfang Februar, nachdem Österreich allein im Vorjahr mehr als 95.000 Flüchtlinge aufgenommen hatte, erreichte uns nun die offizielle Meldung der EU-Kommission, man habe „die Flüchtlingsquote für Österreich um 30 Prozent gesenkt“. Unsere Verpflichtung reduziere sich dadurch von ursprünglich vorgesehenen 1.900 auf nunmehr 1.300 Flüchtlinge. Angesichts von weiteren 37.500 Asylwerbern, die wir allein in diesem Jahr zusätzlich aufzunehmen bereit sind, lässt diese Nachricht auf einen alarmierenden Realitätsverlust schließen.
Ein zweites, ebenso befremdliches Parallelwelten-Beispiel ist der sogenannte „Juncker-Plan“. Ein zu großen Teilen aus umgewidmeten EU-Mitteln gespeister Investitionsfonds („ESFI“) soll das Wunder vollbringen, mit Finanzgarantien von 21 Milliarden einen Investitionsschub im Gesamtwert von nicht weniger als 315 Milliarden Euro auszulösen. Das klingt nun wirklich zu gut, um wahr zu sein. Und weil wir seit der Finanzkrise wissen, dass man Dinge, die zu gut klingen, um wahr zu sein, besser doch nicht glauben sollte, heißt das in Anwendung auf den Juncker-Plan: Die Verfünfzehnfachung von Fördermitteln ist ein unhaltbares Versprechen.
Noch weniger haltbar ist das Vorhaben, nur solche Projekte zu finanzieren, die ohne die zusätzliche Förderung unterblieben wären. Denn auf fast alle bisher im Rahmen des Juncker-Plans bekannt gewordenen Investitionsvorhaben trifft das Gegenteil zu. Ob es um den dritten Terminal des Frankfurter Flughafens geht, um eine zusätzliche Autobahnteilstrecke, den Internet-Breitbandausbau oder ein Wiener Spitalsprojekt: all das wäre auch ohne das Placet aus Luxemburg – dort sitzt die für die Durchführung verantwortliche Europäische Investitionsbank EIB – umgesetzt worden.
Somit ist auch die Aussicht auf 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze eine Illusion oder genauer: eine Vor-Täuschung. Es gibt praktisch keinen Finanzexperten, der das im privaten Gespräch bestreitet. Aber niemand will Spielverderber sein und als erster mit dem Finger auf des Kaisers neue Kleider zeigen.
Falsche Hoffnungen zu wecken, ist jedenfalls unsolide und riskant. Denn sollte sich der als konjunkturelles Wundermittel propagierte Plan des Kommissionspräsidenten als finanztechnische Luftnummer erweisen, würde das nicht nur ihm sondern dem gesamten europäischen Projekt einen weiteren, schweren Vertrauensschaden zufügen.
03. März 2016