Am Beginn des europapolitischen Schicksalsjahres 2016 bietet die Union ein zerrissenes Bild. Die Kommission als zentrales Regierungsinstrument wirkt zusehends machtloser. Die seit der Finanzkrise praktizierte Verlagerung von Entscheidungen in improvisierte Rats-Treffen von Regierungschefs und Fachministern ist spätestens seit der Flüchtlingskrise zum Normalzustand geworden. Dies erhöht das Gewicht nationaler Standpunkte, zumal in einem Umfeld von Wahlgängen, die zusehends von rechten und linken EU-Gegnern geprägt werden. Bei den nächsten Wahlen zum Europaparlament – nur gut, dass sie erst in drei Jahren stattfinden! – wird mit einiger Wahrscheinlichkeit die Zahl jener Abgeordneten zunehmen, die mit ihrem Mandat die Absicht verfolgen, es zugunsten nationaler Gesichtspunkte zu schwächen oder gar abzuschaffen. Ihr Anteil liegt schon heute bei über zehn Prozent der Delegierten.
Zur offenkundigen Erosion des Vertrauens in die Klugheit der Regierenden tragen die unaufrichtigen Verhandlungen mit dem Beitrittskandidatenland Türkei bei. Die Erpressbarkeit durch einen autokratisch agierenden Präsidenten, der als Herr über die syrischen Flüchtlingsströme seinen Feldzug gegen die Kurden ohne großen Protest aus Brüssel verschärfen kann, ist mit den Händen zu greifen und darf doch nicht beim Namen genannt werden. Wer jedoch diese und andere unangenehme Wahrheiten tabuisiert, überlässt die politische Dynamik jenen, die Realitäten benennen und daraus die falschen Schlüsse ziehen.
Dies gilt auch für ökonomische Wahrheiten. Eine nach wie vor in weiten Bereichen entgleiste, der Realwirtschaft entfremdete Finanzwirtschaft schafft nie gekannte Verteilungsprobleme. Die Arbeits- und Lebenschancen des Mittelstandes erscheinen so gefährdet wie die Zukunftschancen der nächsten Generation. Das europäische Wirtschaftsmodell einer sozial und ökologisch verantworteten Marktwirtschaft bedarf deshalb unter den Bedingungen der Globalisierung einer grundlegenden Erneuerung, wenn die Wertegemeinschaft nicht zu einer inhaltsleeren Besitzgemeinschaft (© Peter Rosei) verkümmern soll.
In dieser Situation erscheinen mir die Gespräche zu den britischen Anliegen in Sachen EU, denen ich ursprünglich skeptisch gegenüberstand, als durchaus willkommene Chance für eine kritische Zwischenbilanz über das bisher Erreichte und Versäumte. David Cameron ist mit seiner Feststellung, dass das zum Stereotyp verkommene Fernziel der immer engeren Union („ever closer union“) als Wegbeschreibung Europas nicht mehr ausreicht, jedenfalls nicht allein.
Mit einer gründlich überarbeiteten Aufgabenteilung zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten und der Festlegung realistischer Etappenziele könnte die europäische Erzählung wieder attraktiv werden. Gelingt dann auch noch ein wirtschaftspolitischer Reformschub, wäre die Fluchtbewegung in das trügerische Paradies nationaler Geborgenheit wohl bald wieder Vergangenheit. Möge die Übung gelingen!
07. Jänner 2016