„Don´t cry over spilt milk“ heißt es so schön. Dennoch kommen einem mitunter die Tränen, wenn man an vergebene Chancen denkt. Noch dazu, wenn es um eine privilegierte Partnerschaft geht. Aber der Reihe nach…
Nach dem offensichtlichen Scheitern des Dublin-Abkommens, demgemäß abgewiesene Asylsuchende in jenes europäische Land zurückexpediert werden, das sie als erstes betreten haben, befindet sich Europas Politik nun in einer Phase geradezu anarchischer Improvisation. Immer mehr Mitgliedsstaaten stellen gegensätzliche Überlegungen darüber an, was zu unternehmen wäre, um den Zustrom flüchtender Menschen irgendwie überschaubar zu halten.
Der vermeintliche Ausweg, den türkischen Staatspräsidenten zum wichtigsten Verbündeten in eigener Sache zu machen, könnte sich als „mission impossible“ erweisen. Nachdem Europa dieses Projekt praktisch aufgegeben hat, soll nun die Türkei an ihren langen Grenzen zum Iran, Syrien und dem Irak wirksames Einwanderungs-Management betreiben. Das wird einen sehr hohen Preis haben – nicht nur in Euro-Milliarden, sondern auch in politischer Münze.
Nach den Wahlen im Frühjahr torpedierte Erdogan eine Regierungsbildung, weil ihm die demokratisch legitimierte Stärkung der kurdischen Minderheit nichts ins Konzept passte. Zugleich zog er mit doppelbödiger Taktik die NATO-Verbündeten auf seine Seite und trieb ihnen die aufkeimende Sympathie für einen eigenständigen Staat der Kurden aus, obwohl sich diese so heldenhaft wie unbedankt gegen den islamischen Staat in die Schlacht geworfen hatten. Nun, kurz vor den herbeigezwungenen Neuwahlen, mögen Bilder von staatstragenden Begegnungen mit Europa-Politikern Eindruck machen – ob er aber liefern kann, was von ihm erwartet wird, bleibt völlig offen.
Indem sich Europa vom Wohlverhalten eines Politikers abhängig macht, der im letzten Jahrzehnt vom Hoffnungsträger eines säkularisierten Islam zum autokratischen Grenzgänger geworden ist, begibt es sich aller Möglichkeiten, dessen Verhalten im Hinblick auf Tempo und Inhalt der Beitrittsverhandlungen ernsthaft zu beeinflussen. Wir haben uns schlicht erpressbar gemacht. Mit einem Mal verspricht man nun Visa-Erleichterungen und das Vorziehen neuer Verhandlungskapitel für den EU-Beitritt, ohne jede Verbindung mit demokratiepolitischen Auflagen, wie etwa der Freilassung von Journalisten, die „Newsweek“ zu Folge nur in China zahlreicher verhaftet werden als in der Türkei.
Was das alles mit vergossener Milch zu tun hat? Nun, vor ziemlich genau zehn Jahren wurde das Konzept der „privilegierten Partnerschaft“, das von Angela Merkel als Alternative zu einem EU-Beitritt der Türkei entwickelt und von Kanzler Wolfgang Schüssel unterstützt worden war, von Außenminister Joschka Fischer und anderen europäischen Gegnern niedergestimmt. Frau Merkels Kanzlerschaft im September 2005 kam zu spät, um diese grundvernünftige Idee durchzusetzen. Wie Schade um die damals vergebene Chance. Kurz darauf begannen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
22. Oktober 2015