„Bevölkerungsexplosion“ heißt jenes demographische Bedrohungsszenario, das fast schon so alt ist wie die Globalisierung selbst. Werner Boote, mit seinem Erstlingswerk „Plastic Planet“ zu internationalem Ruhm gekommen, hat darüber einen sehenswerten Dokumentarfilm gedreht. Mit mehr Fragen als Wissen im Gepäck machte er sich auf die Suche nach den kontrastreichen Wirklichkeiten hinter diesem Begriff. Sein „Population Boom“ ist ein faszinierendes, kurzweiliges Kaleidoskop starker Bilder und überraschender Begegnungen mit Menschen aus den entlegensten Lebenswelten.
Boote kommt zu dem Schluss, dass selbst dann, wenn die Weltbevölkerung in zwanzig Jahren mit knapp zehn Milliarden Menschen ihr größtes Ausmaß erreicht haben wird, genug für alle da wäre – wenn wir nur zum Teilen bereit sind. Unsere Ängste vor Überbevölkerung beruhten vor allem darauf, dass unser verbrauchsintensiver Lebensstil, den wir uns aus Bequemlichkeit nicht abgewöhnen wollen, nicht als globales Vorbild taugt.
In einer Podiumsdiskussion, die ich mit ihm und dem Wittgenstein-Preisträger Wolfgang Lutz an der Wirtschaftsuniversität geführt habe, bestätigte der renommierte Sozialwissenschaftler – er ist einer der im Film befragten Experten – diese kritisch-optimistische Sicht. Aber nur dort, wo Teilhabe an Bildung, Rechtssicherheit und Produktionsressourcen möglich ist, entsteht Wertschöpfung und Wachstum, von dem noch mehr Menschen leben können.
Wenn wir nun aber nicht zu viele sind, wer ist dann dieses solidarische „Wir“, das für gedeihliche Verhältnisse sorgen soll? Ist es unsere jeweilige nationale Politik oder die der europäischen Union, die Hilfsbereitschaft vieler Einzelner oder der internationalen Organisationen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der Kern des Problems selbst bei bestmöglichem, engagiertem Zusammenwirken all dieser „Wirs“ noch immer ungelöst bleibt, weil die Ursache von Hunger und Armut viel zu oft auf das Versagen der lokalen Regierungen zurückzuführen ist? Zimbabwes Diktator Mugabe, der die Bevölkerung seines ressourcenreichen Landes in die Armut trieb, steht stellvertretend für eine ganze Reihe miserabler Herrscher.
Die Ratlosigkeit, mit der wir der dramatischen Massenflucht afrikanischer Menschen an Europas Grenzen gegenüberstehen, kommt wohl auch von der empörenden Ohnmacht gegenüber korrupten Unrechts-Regimen, geldgierigen Familien-Clans und religiösen Fanatikern, die in zahlreichen Staaten ein Leben in Frieden und Freiheit verhindern. Interventionen von außen verbietet das Völkerrecht und der Weltpolizist USA hat sich in Kriegen um Energieressourcen und gegen den Terror erschöpft. Der Tauschhandel Menschenrechte gegen Wirtschaftshilfe aber funktioniert noch weniger, seit China seine Interessen in Afrika ohne lästige humanitäre Auflagen verfolgt.
Deshalb treffen bis auf weiteres hilflose Flüchtlinge auf machtlose Helfer, die gerade dort nichts zum Besseren wenden können, wo es darauf ankäme: in deren Heimat.
31. Oktober 2013