Seit dem Ausbruch der Finanzkrise spielt die österreichische Schule der Nationalökonomie eine wichtige Rolle in der internationalen ökonomischen Auseinandersetzung. Ihr bekanntester Exponent war Wirtschafts-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek. Seine mitten im Zweiten Weltkrieg entstandene Streitschrift „Der Weg zur Knechtschaft“ fasziniert noch heute als Manifest gegen Totalitarismus, Planwirtschaft und allzu naives Staatsvertrauen. Er war alles andere als ein bloßer „Marktradikaler“ und ich bezweifle, ob er mit der heute üblichen Vereinnahmung als Kronzeuge „neoliberaler“ Rezepte einverstanden wäre.
Die Wurzeln der österreichischen Schule, deren Schriften von Joseph Schumpeter bis Carl Menger eine Reihe unkonventioneller Erklärungen für die aktuelle Situation liefern, liegen im Wien der Zwischenkriegsjahre, als die geistige Vielfalt der späten Monarchie mit den intellektuellen Eliten des jüdischen Großbürgertums ein einzigartiges Experimentierfeld für völlig neue Denkansätze bildete. Diese „Versuchsstation für den Weltuntergang“ (© Karl Kraus) mutierte später, als Antisemitismus und Rassenwahn zur Emigration zwangen, zu einer Versuchsstation für den Aufbruch in die Neue Welt.
Auch Oskar Morgenstern und John von Neumann gingen „hinüber“ und begründeten 1944 die „Spieltheorie“. Morgenstern war im übrigen Schüler von Ludwig von Mises und Nachfolger Hayeks als Leiter des Wirtschaftsforschungsinstitutes, bevor er seine Heimatstadt Wien verlassen musste. Ziel der ursprünglich im militärstrategischen Umfeld des Zweiten Weltkrieges entwickelten Spieltheorie ist die Berechenbarkeit des Verhaltens auf der Grundlage empirisch gestützter Denkmodelle egoistischer Nutzenmaximierung und rationalen Verhaltens.
An diese zweite österreichische Schule erinnert FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem neuen Bestseller „Ego – Das Spiel des Lebens“. Er vermutet in ihrer finanzmathematischen Modellgläubigkeit gar die Wurzeln eines „Informationskapitalismus“, der uns von einer Finanz- und Wertekrise in die nächste treibt. Schirrmacher befürchtet eine Erosion bisheriger, in der Sozialen Marktwirtschaft verwirklichter ordnungspolitischer Werte durch ein Marktwert-Modell amerikanischen Zuschnitts, in dem der „homo oeconomicus“ längst zu unserem Zweiten Ich geworden ist.
Schirrmacher überspitzt und mystifiziert zwar die Rolle der Spieltheorie. Im Gegensatz zu vielen Kritikern, die sein Buch als typisch deutsches Romantiker-Pamphlet bei Seite schieben, halte ich den Kern seiner Sorge jedoch für berechtigt. Wir stehen tatsächlich vor der Entscheidung, ob wir weiter als Gesellschaft selbst über die richtigen Rahmenbedingungen entscheiden, unter denen wir wirtschaften wollen – oder ob wir uns diese Entscheidung durch die angeblich objektive (Finanz-)Marktlogik aus der Hand nehmen lassen. So gesehen waren die Begrenzung der Banker-Boni durch das europäische Parlament und die Schweizer Abstimmung gegen systematische Abzockerei ein guter Anfang.
07. März 2013