Umberto Eco, bekanntlich nicht nur Romancier und Philosoph sondern auch so etwas wie ein Büchernarr, verfasste in den Achtzigerjahren unter dem Titel „Wie man eine öffentliche Bibliothek organisiert“ eine berühmt gewordene Satire über die Bücherverleihanstalten von damals. Er parodierte darin all die seinerzeit verbreiteten Schikanen und Bürokratismen benutzerfeindlicher Bibliotheken der alten Schule – von schwer ausfüllbaren Leihzetteln bis zur Verunmöglichung der Anfertigung von Kopien. Sollte er jemals Gelegenheit haben, die Österreichische Nationalbibliothek von heute zu besuchen – er fände hier die rundum geglückte Antithese zu seiner Kritik.
Für all die seit 2001 erfolgreich umgesetzten baulichen und inhaltlichen Neuerungen im Rahmen langfristiger strategischer Ziele wurde deren Generaldirektorin Johanna Rachinger in diesen Tagen als „Managerin des Jahres“ ausgezeichnet.
Konsequent setzt sie auf Nutzung der neuen Medien und Digitalisierung: alle historischen Tageszeitungen sind elektronisch abrufbar, ebenso hunderttausende Fotografien, historische Porträts und Plakate sowie Bilder zur Alltagsgeschichte Österreichs und der Habsburgermonarchie. Auch online publizierte Medieninhalte werden gespeichert.
Mehr noch: um den gesamten österreichischen Web-Space zu erfassen, archiviert man am Heldenplatz in größeren Zeitabständen ein elektronisches Abbild davon. Auch den flüchtigsten Inhalten wird so Dauer verliehen, um sie für Interpretationen unseres Zeitgeschehens und unserer Denkweisen zu bewahren.
2010 erfolgte dann der Zeitensprung von der Gutenberg-Galaxis (©Marshall McLuhan) in die Google-Galaxis. Im Rahmen eines mit Google geschlossenen Vertrages zur Digitalisierung des gesamten urheberrechtsfreien Buchbestandes werden schon in wenigen Jahren nicht weniger als 600.000 Bücher vollinhaltlich über das Internet abrufbar sein – ohne wesentliche Zusatzkosten für die Nationalbibliothek.
In einer Zeit, in der Informationsbestände, die nicht über das Internet ansteuerbar und auffindbar sind, in Vergessenheit zu geraten drohen, ist dieses Vorhaben von unschätzbarer Bedeutung. Es stellt wohl das einzige wirksame Gegengift zur Bekämpfung dessen dar, was der Arzt und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer „Digitale Demenz“ nennt. Denn Inhalte, die von der Verdrängung durch das elektronische Zeitalter bedroht waren, werden im virtuellen Bibliotheksraum wieder für jederman abrufbar und bleiben damit präsent. Dazu kommt der konservatorische Vorteil, dass die Bestände im Fall einer physischen Katastrophe – etwa eines Brandes – wenigstens inhaltlich digital abgesichert wären.
Die Nationalbibliothek als geistesgeschichtliche Visitenkarte unseres Kulturkreises, als Tiefenspeicher unserer Traditionen der Aufklärung auf die Höhe der Zeit gebracht zu haben: das ist ein höherer Zuwachs an Wertschöpfung für uns staatsbürgerliche Eigentümer/innen als jener nur in Zahlen messbare „Shareholder Value“, mit dem sich die Finanzwirtschaft zu schmücken pflegt.
08. November 2012