Wirtschaftsethik

Wirtschaftsethik: Schönwetterdisziplin oder Grundlage unserer Wirtschaftsordnung?

 

Vortrag anlässlich der Tagung der Carl Friedrich von Weizsäcker Gesellschaft am 8. April 2016 in Wien

Die Aktualität des mir aufgegebenen Themas könnte kaum größer sein, stoßen wir doch beinahe täglich auf Nachrichten, die in unmittelbaren Zusammenhängen mit wirtschaftsethischen Fragestellungen stehen. Diese betreffen meist weniger den Bereich gesetzlich klar geregelter Tatbestände, die ja nach kodifiziertem Recht zivil- oder strafrechtlich sanktioniert werden, als vielmehr Übergangszonen und Graubereiche zwischen dem eindeutig Verbotenen und dem gerade noch Legalen. Dort, wo eine Handlungsweise moralischer Abwägung bedarf, wo sie die Grenzen der Legitimität überschreitet, selbst wenn kein ausdrücklicher Gesetzesverstoß vorliegt, gewinnen wirtschaftsethische Erwägungen an Gewicht.

So lässt sich am Beispiel des Finanzwesens zeigen, wie eine von den steuerlichen Folgekosten der Finanzkrise belastete Öffentlichkeit bestimmte Handlungsweisen, in denen Spielräume etwa des Steuer- und Bilanzierungsrechts extensiv genutzt werden, wesentlich kritischer sieht als zuvor. Der daraus entstandene Rechtfertigungsdruck legt den Verantwortlichen auch anderer Geschäftszweige die Befassung mit wirtschaftsethischen Fragestellungen nahe. Man erwartet von ihnen, auskunftsfähig zu sein, wenn es um den Nachweis geht, dass ihr Unternehmen nicht auf Kosten der Gesellschaft erfolgreich war, sondern sich wirtschaftlich und ökologisch verantwortungsvoll verhalten hat.

Die wesentlichen Bereiche, in denen es in den vergangenen Jahren gehäuft zu strittigen Fragen kam, seien exemplarisch genannt:

  • Fragen der Steuervermeidung und extensiven Nutzung transnationaler Gestaltungsspielräume zur Minimierung von Unternehmenssteuern oder privater Besteuerung („Panama-Papers“, „Luxemburg-Leaks“). In engem Zusammenhang damit steht die Bekämpfung von Geldwäsche.

  • Verfahren gegen internationale Großbanken und sonstige Finanzinstitute im Gefolge Anlegerklagen, Manipulation von Zinssätzen (LIBOR-Skandal), Insiderhandel etc.

  • Verfahren im Zusammenhang mit Vorwürfen der Bilanzfälschung (ein insbesondere durch die Enron-Affäre in den USA aktualisierter Themenkomplex)

  • Vergehen im Zusammenhang mit Korruption und unredlicher Geschäftsanbahnung (aktualisiert durch die Siemens-Affäre)

  • Fälschung von Messergebnissen hinsichtlich der Einhaltung von ökologischen Standards (aktualisiert durch die VW-Diesel-Affäre).

In all diesen Bereichen bestehen die bereits erwähnten Spannbreiten zwischen eindeutig (straf-)rechtlich sanktioniertem Fehlverhalten auf der einen Seite und grenzwertigem, moralisch angreifbarem, rechtlich jedoch zulässigem Verhalten auf der anderen Seite. Die facettenreiche Wirklichkeit des Wirtschaftens ist offensichtlich voll von Entscheidungssituationen, in denen die Max Weber´sche Unterscheidung von Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik mitunter bis zum äußersten strapaziert wird.

Dass wir auf so zahlreiche Anlassfälle treffen, ist wohl auch Anzeichen einer im Vergleich zu früheren Zeiten erhöhten Transparenz und deutlich größerer medialer Aufmerksamkeit. Die digitalisierte Medienwelt mit ihrer Gleichzeitigkeit und Grenzenlosigkeit der Information sorgt für ununterbrochenen Nachschub an einschlägigen Meldungen. Wir können daraus nicht schließen, dass das Wirtschaftsleben früher grundsätzlich tugendhafter gewesen wäre. Vergleichbare Vorfälle blieben früher vielmehr oft unentdeckt oder sie spielten sich im Graubereich von Usancen ab, die heute nicht mehr toleriert würden – schon gar nicht im aktuellen Umfeld einer zunehmenden (und im Übrigen durchaus problematischen) Verstrafrechtlichung des Wirtschaftens.

Die wirtschaftsethische Herausforderung ist so alt wie unsere Wirtschaftsordnung

Die Debatte um Wirtschaftsethik ist jedenfalls nicht neu. In ihrer modernen Form beginnt sie schon mit Adam Smith, dem großen Moralphilosophen, dem wir den „Wohlstand der Nationen“ verdanken. Das Manuskript zu diesem den Werten der Aufklärung verbundenen, für die moderne Nationalökonomie grundlegenden Werk vollendete er übrigens 1776, also vor 240 Jahren, im Alter von 43 Jahren.

Ich überspringe einen großen Zeitraum von zwei Jahrhunderten und knüpfe dort wieder an, wo sich die damals noch junge Lehre des Managements in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts mit „Business Ethics“ befasste. Der Anstoß dazu kam nicht zuletzt von Peter F. Drucker, der als „Erfinder“ des modernen Managements gilt. Er gab den Führungskräften in Anlehnung an den hippokratischen Eid der Ärzte das Gebot des „Nil Nocere“ als solide Weisung mit auf den Weg in die Wettbewerbsgesellschaft. Dieses Fairness-Gebot wurde zum unbestrittenen Geschäftsgrundsatz, den verletzt zu haben als ehrenrührig und für die Reputation abträglich galt, bevor sich ab Mitte der Neunzigerjahre ein am „Shareholder-Value“ orientierter Wertekodex in den Vordergrund drängte.

Zu Beginn des letzten Jahrzehnts, nach dem Platzen der so genannten New-Economy-Blase im Frühsommer 2000, sorgte in den USA die Enron-Affäre für einen merklichen Aufmerksamkeitsschub in Sachen Wirtschaftsethik. Die nachweisbar extensive Dehnung von Bilanzierungsregeln bis hin zu Verschleierung und schließlich manifestem Betrug bildete den Anstoß dafür, dass die Führungskräfte US-amerikanischer börsennotierter Unternehmen seit damals gemäß dem aus diesem Anlass geschaffenen Sarbanes-Oxley-Act dazu verpflichtet sind, Eide auf die Richtigkeit ihrer Bilanz zu schwören.

Der jüngste entscheidende Anstoß zu unserem Thema ging jedoch zweifellos von der Finanzkrise des Jahres 2008 aus. Der Beinahe-Kollaps des noch wenige Monate vor der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers für unzerstörbar gehaltenen globalen Bankensystems warf dringliche Fragen nach dessen individualethischen wie auch den systemischen Ursachen auf, in deren Folge ein exponentielles Wachstum der Zahl einschlägiger Publikationen, Seminare und Lehrstühle für Wirtschaftsethik einsetzte.

Kein Ende der Geschichte: die Globalisierung stellt uns neue Fragen

Eine zusätzliche Dimension erhielt das Thema durch die Globalisierung. Bekanntlich sprach Francis Fukuyama zu Anfang der Neunzigerjahre vom „Ende der Geschichte“ in dem Sinn, dass er nach der Implosion der totalitären, staatswirtschaftlichen Systeme einen unumkehrbaren Aufbruch zu demokratisch/marktwirtschaftlichen Systemen unterstellt. Dieser von ihm abgesteckte ordnungspolitische Denkrahmen ist heute jedoch nicht mehr intakt. Die der Globalisierung zugeschriebenen arbeitsmarktpolitischen Folgen, wachsende Verteilungsprobleme und das Fehlen gemeinsamer Spielregeln für eine globale Ordnungspolitik haben zu einer partiellen Legitimationskrise unseres Wirtschaftssystems geführt. Dazu kommt eine besondere Herausforderung durch das historisch bis dahin unbekannte und eigentlich auch un-denkbare Modell einer „Marktwirtschaft ohne Demokratie“, wie es im Rahmen eines kommunistischen Einparteiensystems in China gelebt wird.

Die Vision von einer Durchdringung der Welt mit Markt-Demokratien, die zu Massenwohlstand und der Ausbildung sozialstaatlicher Strukturen führen, hat sich jedenfalls in der Durchführung als viel schwieriger herausgestellt als erwartet. Stark unterschiedliche regionale und nationale Ausgangslagen und überhastete, oft schlecht gemanagte Übergänge von Staatswirtschaften zu von Oligarchen beherrschten Ökonomien mit vielfach korrupten Eliten haben in ein höchst heterogenes Nebeneinander von zum Teil nicht kompatiblen Wirtschaftsordnungen geführt.

Thomas Friedman beschreibt in seinem Bestseller „The world is flat“, wie das globale Wettbewerbs-Spielfeld zeitgleich von verschiedensten Teams nach ganz unterschiedlichen Regeln bespielt wird. Etwas bildhaft ausgedrückt: Freistilringer-Gruppen aus Staaten ohne verbindliche soziale und ökologische Mindeststandards treten gegen extrem regelgebundene Unternehmens-Teams aus sozialen und ökologischen Best-Practice-Staaten an. In einer ohnehin konjunkturell belasteten Situation, die sich durch wachsende geopolitische Risiken derzeit weiter eintrübt, nehmen dadurch die Beschäftigungsprobleme in den etablierten Marktwirtschaften zu. Am untersten Ende der Lohnskala, aber auch im klassischen Mittelstand wachsen die Abstiegsängste. Auch innereuropäisch bringt die Binnen-Globalisierung trotz unbestreitbarer Erfolg für die meisten Beitrittsländer problematische Reibungsverluste mit sich, wie die aus zahlreichen EU-Staaten bekannten Auseinandersetzungen zu Fragen der Mindestlöhne und einer ausdifferenzierten Sozialpolitik zeigen.

Wir verstehen wirtschaftsethische Fragestellungen jedenfalls besser, wenn wir sie in das Spannungsfeld all dieser aktuellen Kontexte stellen.

Bei Wirtschaftsethik geht es nicht um Moralismus

Ich bin bisher bewusst der Frage ausgewichen, ob es überhaupt „Spezialethiken“ gibt, ob es legitim ist, ethische Prinzipien, die doch universeller Natur sein sollten, anwendungsorientiert in unterschiedlichem Licht zu sehen? Wenn Sie darauf philosophiegeschichtlich haltbare Antworten erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich weise einfach darauf hin, dass diese wichtige Vorfrage in anderen Bereichen schon sehr früh beantwortet wurde – etwa durch den hippokratischen Eid als Grundlage der Medizin-Ethik. Wir haben uns auch daran gewöhnt, dass es einen Rat für Medienethik gibt oder eine Ethik der Rechtsberufe – warum daher nicht auch eine eigene, angewandte Wirtschaftsethik.

Ich will vielmehr nach der richtigen Umgangsweise mit wirtschaftsethischen Herausforderungen fragen. Geht es nur darum, den Akteuren, speziell etwa den Bankern, ordentliches, regelkonformes Verhalten näherzubringen, dieses notfalls gesetzlich zu erzwingen, und schon wäre die Welt wieder in Ordnung? Wohl kaum. Schon der erste Überblick über die erwähnten Anlassfälle zeigt, dass es um mehr geht als individuelle Moral und deren Überwachung. Denn selbst wenn sich alle tugendhaft verhielten, blieben massive ethische Konfliktsituationen nicht aus.

Schon deshalb bin ich skeptisch gegenüber unreflektierten wirtschaftsethischen Buß-Übungen ratloser Wirtschaftseliten. Mitunter entsteht sogar den Eindruck, man gelobe kollektive Besserung, um damit von der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen an den Rahmenbedingungen ihres Wirkens abzulenken. Nicht weniger Skepsis ist gegenüber jenen Tugendwächtern angebracht, die anhand immer komplexerer Sittencodices von außen über Gut oder Böse urteilen, ohne mit den grundlegenden Funktionsweisen eines arbeitsteiligen, wettbewerblichen Wirtschaftsgeschehens vertraut zu sein.

Auf eine – für mich durchaus überraschende – Bestätigung dieser Skepsis stieß ich in einer Aussage von Kardinal Josef Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt, aus dem Jahr 1986: „Eine Moral, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetzt überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral“.

Sollten wir uns einfach damit abfinden, dass ein verbindlicher Ethikkodex ohnehin im inneren Widerspruch zu wirtschaftlichen Sachzwängen steht und wir uns deshalb besser damit begnügen würden, uns an die jeweils geltenden Gesetze zu halten? Erlaubt wäre demgemäß alles, was nicht ausdrücklich verboten ist. In eben diese Richtung weist eine gewissermaßen dualistische Sicht, die behauptet, selbstzweckhaftes Wirtschaften funktioniere am besten ohne ausdrückliche ethische Verbindlichkeiten.

Dazu passt eine von dem großen Zeitkritiker und Satiriker Karl Kraus überlieferte Anekdote. Er soll zu einem Studenten, der ihn über seine Studienwünsche informierte, wörtlich gesagt haben: "Sie wollen Wirtschaftsethik studieren? Dann studieren Sie besser entweder das eine oder das andere!". Ähnlich kritisierte der Systemtheoretiker Niklas Luhmann: "Es gibt Wirtschaft, es gibt Ethik - aber es gibt keine Wirtschaftsethik.”

Dieser Dualismus einer voneinander getrennten Wirtschafts- und Wertewelt kennzeichnet einen großen Teil auch der aktuellen Diskussion. Tatsächlich vertreten ja führende liberale Ökonomen die Theorie, die Freiheit der Wirtschaft gelte absolut nach dem Motto: je mehr Freiheit, desto größer der Erfolg. Wenn Milton Friedman betonte, dass vor allem anderen „The business of business is business“ zu stehen habe, meinte er damit die Freiheit, innerhalb des geltenden gesetzlichen Rahmens frei von den Zwängen ethischer Regelungen handeln zu können. Auf der einzelwirtschaftlichen Ebene des Handelns ist das durchaus gut so. Niemand soll, während er seinem Tagwerk im Rahmen einer arbeitsteiligen Wirtschaft nachgeht, neben der Erfüllung seiner beruflichen Aufgabe auch noch darüber nachdenken müssen, was er damit gerade für das Gemeinwohl tut.

An dieser Stelle kommt noch einmal Adam Smith ins Spiel: Er weist darauf hin, dass Eigennutz und Gemeinnutz in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie durch eine „unsichtbare Hand“ versöhnt werden, da über die effiziente Herstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen hinaus die entstandene Wertschöpfung über den Umwege der Aufrechterhaltung zentraler Staatsfunktionen und des Steuer- und Sozialsystems der Allgemeinheit zu Gute kommt. Oder, in der stark verknappten Formulierung von John Rawls: Arbeitsteiliges Wirtschaften ist ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.

Der Dualismus von Wirtschaften- und Werten greift zu kurz

Dennoch greift der wirtschaftsethische Dualismus zu kurz. Denn Unternehmen haben als Teil des Sozialgefüges eine Rolle, die weit über die eines Produzenten oder Dienstleisters hinausgeht. Die enge gegenseitige Abhängigkeit von und Verflochtenheit mit dem sozialökonomischen Ganzen verlangt letztlich doch nach einer handlungsleitenden Wirtschaftsethik sowohl auf unternehmerischer Ebene als auch dort, wo es um die Einrichtung des Systems als Ganzes geht. Längst sind Unternehmen auf den unterschiedlichen Ebenen ihres Wirkens zu einer Einflussgröße geworden, die sie in die Rolle einer „Fünften Gewalt“ versetzt, aus der sich eine weitreichende unternehmensethische Mitverantwortung für das gesellschaftliche Ganze ergibt.

Damit in Übereinstimmung steht die Sicht einer letztlich untrennbaren Einheit eines Wirtschaftssystems mit seinen sozial-ökonomischen und wirtschaftsethischen Funktions-Voraussetzungen, wie sie einem ordo-liberalen Denkansatz entspricht. Dieser scheint mir – auch wenn er begrifflich etwas außer Mode gekommen sein mag – auch heute gut geeignet, die geeigneten Rahmenbedingungen einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Ökonomie zu definieren. Da der Markt nicht selbst die Voraussetzungen schaffen kann, unter denen er das gesamtgesellschaftlich erwünschte Ergebnis bringt, ist es demgemäß Aufgabe des Staates, eine Rahmenordnung herzustellen, die dafür sorgt, dass die grundsätzlich wohlfahrtsfördernden Wirkungen des Wettbewerbs auch den im Wettbewerb benachteiligten Schwächeren zugutekommen.

Lassen Sie mich nun auf die drei wesentlichen Handlungsebenen von Wirtschaftsethik in Unternehmen zu sprechen kommen, wobei ich jeweils den in der Sprache der modernen Managementlehre gebräuchlichen Begriff hinzustelle:

  • Ebene des individualethischen Handelns (Compliance / Code of Conduct)

  • Verantwortliche Unternehmensführung / (Corporate Governance)

  • Mitverantwortung für das gesellschaftliche Ganze (Corporate Social Responsibility)

Jenseits von Angebot und Nachfrage

Auf Ebene der Individualethik stellt sich die Frage nach dem verantwortlichen Handeln des Einzelnen im Rahmen geltender Gesetze, gelebter Spielregeln und den vielen fließenden Übergängen vom vorteilhaften Geschäft zur Übervorteilung, vom professionellen Ausschöpfen rechtlicher Grenzen bis hin zur grenzlegalen „Gestaltung“, von einer angemessenen Erfolgsbeteiligung zu maßloser Bonuspolitik oder von legitimem Gewinnstreben zu unersättlicher Profitgier.

Hätten wir es nur mit dem aus Gründen der Modellvereinfachung von der Ökonomenzunft so geschätzten Homo Oeconomicus zu tun, wäre die Sache klar: es würde immer das Maximierungskalkül zugunsten des eigenen Vorteils siegen. Aber die Wirklichkeit ist natürlich eine andere. Längst fließen daher Sichtweisen der Verhaltenswissenschaften, der Anthropologie oder der Psychologie auch in die Vorstellungswelten der Ökonomen ein.

Birger Priddat, langjähriger Rektor der von Alfred Herrhausen gegründeten Privatuniversität Witten-Herdecke hat einen Komplementärbegriff zum Homo oeconomicus geprägt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Priddat stellt dem Modell des rational nutzenmaximierenden homo oeconomicus den „homo reciprocans“ gegenüber, der sich vor allem durch Kooperationsbereitschaft, Vertrauen, Transparenz und Fairness gegenüber fremden Partnern auszeichnet. Schließlich ginge es neben der Maximierung von Nutzen in der Wirtschaft gleichermaßen um den Aufbau (und Erhalt) von Reputation. Reputation und Vertrauen aber basieren darauf, dass man „in seinem Ethos kalkulierbar“ bleibt. Dies gelte in gleicher Weise für die Wirtschaft wie für das Individuum. Für das Funktionieren eines effektiven Wirtschaftslebens käme es deshalb entscheidend auf die Förderung von Vertrauen an.

Dieser Ansatz lässt sich durchaus mit rationalistischen Begründungen der Vorteile ethisch motivierter Unternehmensführung in Deckung bringen. Das durch verlässliches und anständiges – nicht nur dem Buchstaben sondern auch dem Geist von Verträgen folgendes – Verhalten geschaffene Vertrauen macht sich durch Loyalität von Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden „bezahlt“. Die darauf zufließenden immateriellen Erfolgskomponenten werden nicht sichtbar in der unternehmerischen Erfolgsrechnung ausgewiesen – fehlen sie jedoch, kann das ein Unternehmen in den Ruin treiben.

Wohl auch deshalb ist Unternehmensethik längst zur Führungsaufgabe geworden – unabhängig davon, ob das als Teil einer gelebten Unternehmenskultur gewissermaßen intrinsisch geschieht, oder, in größeren Unternehmen, explizit gemacht und in die Regelwerke eines Governance Code oder Code of conduct gegossen wird. Es geht hier letztlich um eine jedes Unternehmen prägende Vorbildfunktion von Führungskräften („the tone at the top“), deren Gelingen darüber bestimmt, wie sich die einzelnen Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens, gegenüber den Kunden, den Mitbewerbern und der öffentlichen Sphäre verhalten. Moralisches Verhalten wird in einem solchen Verständnis nicht als Restriktion von Effizienz wahrgenommen, sondern vielmehr als deren Voraussetzung. Mit einem Mal ist es ganz von selbst vorbei mit dem eingangs zitierten „Dualismus“ von Ethik und Wirtschaft.

Problematisch wird eine solche leicht unter Utilitarismus-Verdacht geratende Begründung der Einhaltung von wirtschaftsethischen Grundsätzen (oder auch im engeren Sinn einer „Geschäftsmoral“) allerdings dort, wo unklar bleibt, ob ihr auch wirklich eine von Zweckrationalität unabhängige ethische Grundhaltung vorausgeht. Oder anders gesagt: Ob im Sinn des berühmten Buchtitels des vor fünfzig Jahren verstorbenen deutschen Ökonomen und Sozialphilosophen Wilhelm Röpke eine wirtschaftsethische Fundierung „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ vorliegt.

Noch so umfangreiche unternehmensinterne Verhaltensregeln können Anstand und Eigenverantwortung nicht ersetzen. Inmitten des Regulierungs-Dschungels gewinnt die persönliche Haltung in wirtschaftsethischen Entscheidungsfragen wieder an Gewicht. Wie weit man gehen kann, welche Grenzen ausgetanzt werden dürfen, wo sich das gerade noch Erlaubte verbietet, weil es nicht mehr legitim ist: das richtig einzuschätzen war und ist eine Kernkompetenz von Führungskräften.

Den fatalen Dualismus von Wirtschaft und Ethik gerade auf Unternehmensebene zu durchbrechen ist schon deshalb wichtig, weil sich am Gelingen dieser Übung entscheidet, ob es bei einem berechtigten Grundvertrauen in berechenbares Verhalten bleiben kann oder der bereits in vielen Bereichen eingeschlagene Weg des Misstrauens und der daraus folgenden, sich immer mehr verschärfenden Kontrolle beschritten wird. Denn wo immer genauere Regulierung zum Ersatz für Eigenverantwortung wird, droht ein Formalismus des Handelns, in dem jede Aktivität zu dokumentieren ist, weil andernfalls im Rahmen einer längst eingetretenen Umkehr der Beweislast die Vermutung schuldhaften Verhaltens greift.

Unternehmensethik als Führungsaufgabe

Auf einer nächst höheren Ebene stellt sich die wirtschaftsethische Herausforderung, für verantwortliche Unternehmensführung Sorge zu tragen. Demgemäß sind nicht nur Einzelpersonen für ihr Tun und Lassen verantwortlich, sondern indirekt auch das von Ihnen geprägte Unternehmen. Auch hier geht es nicht nur um das bloße Einhalten von  Gesetzen, sondern um zu verantwortete Handlungsweisen, wenn etwa über Arbeitsverhältnisse an Produktionsstandorten von Zulieferern zu befinden ist oder Umweltfragen zu klären sind. Auch hier bestimmt der „tone at the top“, wohin die Reise geht.

Die Mitverantwortung von Unternehmen für das gesellschaftliche Ganze findet ihren Niederschlag in all jenen Aktivitäten, die heute unter „Corporate Social Responsibility“ firmieren. Gerade überregional oder gar global agierende Markenunternehmen haben längst erkannt, dass es auch hier nicht um gewissermaßen ethische Fleißaufgaben geht, sondern langfristig um die Stellung eines Unternehmens und seinen Erfolg im Markt. Ob es um Steuerehrlichkeit, faire Produktionsverhältnisse oder nachhaltige Erzeugungsmethoden geht: die Einhaltung der Standards in all diesen Bereichen wird nicht nur durch immer

verbindlichere Zertifizierungsverfahren sondern auch durch kritische Konsumenten und NGO´s so stark überwacht, dass sich der Dualismus von Unternehmensinteresse und Unternehmensethik als kontraproduktiv erweist: es ist im Unternehmensinteresse, in all diesen Bereichen Wohlverhalten zu zeigen und ethische Standards einzuhalten oder auch überzuerfüllen.

Der systemische Ort der Moral in der Marktwirtschaft

Damit komme ich zu einer letzten, gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Ebene ethischen Verhaltens von Unternehmen. Es geht um die Mitverantwortung für das gesellschaftliche Ganze und um die Weiterentwicklung der jeweils geltenden ordnungspolitischen Spielregeln. In diesem Zusammenhang besteht der unternehmensethische Verantwortungs-Spielraum im konkreten Verhalten bei der Mitwirkung an der Entstehung neuer Standards und für das Branchengeschehen bestimmende Gesetzesmaterien.

Der Münchner Sozialethiker Karl Homan weist auf die erforderliche ethische Begründung einer marktwirtschaftlichen Ordnung hin. Der Markt bedarf, um gesamtgesellschaftliche nützlich zu sein, der Einbindung in höhere Rahmenbedingungen, die zum Wohle der Gesamtgesellschaft mit zu gestalten auch in der Verantwortung der Führungskräfte von Unternehmen liegt. Deshalb bezeichnet er die Rahmenordnung als den systemischen Ort der Moral in der Marktwirtschaft.

Was für das Unternehmen im Einzelnen gilt, trifft auch auf die marktwirtschaftlich-demokratische Wirtschaftsordnung zu: um als erfolgreich zu gelten, sollte eine „triple bottom line“ von Profitabilität ebenso wie sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. Johannes Schasching, einer der großen Denker der christlichen Soziallehre, beschrieb diese Erfolgstriade sehr treffend mit den Begriffen sachgerecht, menschengerecht und umweltgerecht.

In einem politischen Umfeld, das sich durch die Einflussnahme finanzstarker Gruppierungen der Gefahr ausgesetzt sieht, den Kampf „Wall Street versus Main Street“ zu verlieren, wird die unternehmerische Mitverantwortung für eine dem Ganzen verpflichtete Ausgestaltung der Rahmenbedingungen – auch wenn sie kurzfristig Brancheninteressen widersprechen mögen – zu einer demokratiepolitisch unverzichtbaren Übung. Es geht um nicht weniger als „die Erneuerung des Leitbildes einer „sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten, wirtschaftlich-produktiven Ordnung“.

Oder, um es mit der pragmatischen Formulierung von Peter F. Drucker zu begründen: „Freie Marktwirtschaft kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Wirtschaft ist, sie kann nur damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Gesellschaft ist“.

Womit die Antwort auf die im Titel meines Vortrages gestellte Frage eindeutig ausfällt: Wirtschaftsethik ist keine Schönwetterdisziplin zur Vertreibung von Krisengewittern sondern seit Erfindung der modernen Marktwirtschaft grundlegend für deren Akzeptanz und nachhaltigen Erfolg.

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